Entspringe deinen Fesseln – Hexenstieg Ultra 2019

Entspringe deinen Fesseln – Hexenstieg Ultra 2019

Insprine, haptbandun! „Entspringe deinen Fesseln!“ Das ist kein Zauberspruch, sondern das Motto des diesjährigen Hexenstiegs. Und gefesselt sollte man wahrlich nicht an den Start gehen, wenn es darum geht 215 Kilometer und knapp 4000 Höhenmeter zu überwinden. Wie es mir, auf meinem bislang längsten Wettkampf erging, erfahrt ihr im folgenden Laufbericht.

Hinweis: Der Hexenstieg ist lang, der Bericht ebenfalls. Eilige Leser können wie immer direkt zum Abschnitt „Das Rennen“ springen. Die Bilder können, durch Anklicken, vergrößert werden.

Worum geht es?

Auf dem Hexenstieg stehen drei Strecken zur Auswahl. Der „Hexenritt“ führt von Osterode nach Thale und überquert dabei, unter anderem, den Brocken. Gelaufen wird vorrangig auf dem Hexenstieg Wanderweg. Diese Strecke hat eine Länge von etwa 105km und ca. 1800 Höhenmetern. Der „Hexentanz“ führt von Thale nach Osterode, gelaufen wird auf der Alternativroute des Hexenstiegs, u.a. über den Hexentanzplatz, Wurmberg und Wolfswarte. Teilweise überschneiden sich dabei die Strecken, es sind 110 Kilometer und etwa 2000 Höhenmeter zu überwinden. Der Rückweg gilt dabei als technisch anspruchsvoller.
Wer sich nicht entscheiden kann, nimmt den „Hexenstieg Ultra“ und läuft beide Strecken.

Meine Teilnahme

Mein Start beim Hexenstieg hat eine Vorgeschichte, keine Sorge, ich halte mich kurz:
März 2018 auf den Infinity Loops: Die Infinity Loops sind ein Trainingsevent von Michael Frenz, dem Organisator des Goldsteig Ultrarace, der „I Run 661“ Challenge sowie eben des Hexenstiegs. Meine Teilnahme an den Loops erfolgte spontan, nach dem der 6 Stunden Lauf, in Nürnberg, an dem ich eigentlich teilnehmen wollte, kurzfristig abgesagt wurde. Kurz vor dem Event hat Michael, über Facebook, noch Helfer für den Hexenstieg gesucht. Da wir uns auf Anhieb gut verstanden haben, bot ich meine Hilfe an. So kam es, dass ich, gut einen Monat später, in den Harz pilgerte, um, zum ersten Mal überhaupt, eine Laufveranstaltung aus der Helferperspektive erleben zu erleben (Ich empfehle jedem, dass auch mal auszuprobieren, es war ein tolles Erlebnis). Den ersten Tag verbrachte ich in Michaels Seite, wir sind von Checkpoint zu Checkpoint gefahren um nach dem Rechten zu sehen. In der Nacht bin ich einen Teil der Strecke, zur Absicherung, abgelaufen. Nach diesen überschaubaren Einsätzen betreute ich, am zweiten Tag, einen Versorgungspunkt in Zielnähe. Neben dem Erlebnis gab es, unter anderem, einen Freistart für dieses Jahr, als Lohn für meinen Einsatz. In 2018 hatten wir extreme Wetterbedingungen: Das erste wirklich heiße Wochenende im Jahr, mit Temperaturen von bis zu 30 Grad. Dies hat viele Teilnehmern das Finish gekostet. Auch ich bin kein Freund von hohen Temperaturen und hoffe das es dieses Jahr kühler sein wird.

Meine Vorbereitung

Nach dem Goldsteig, im September letzten Jahres, habe ich mir eine längere Auszeit gegönnt. Das war, nach den orthopädischen Problemen auf dem Schlussstück der Strecke, auch bitternotwendig. Im November habe ich langsam wieder angefangen, meine Umfänge zu erhöhen, die konkrete Wettkampfvorbereitung hat im Dezember begonnen.
Um mich auf das Rennen vorzubereiten habe ich Michael Frenz um Hilfe gebeten. Er hat mir einen Trainingsplan erstellt, den ich in den folgenden Monaten, so gut wie es mir möglich war, umgesetzt habe. Die Herangehensweise hat sich stark von meinem bisherigen Training unterschieden, so dass es mir nicht immer einfach gefallen ist die Vorgaben umzusetzen. Zu den Trainingsinhalten gehörten z.B. extrem langsame Läufe (8:00 Min / KM) sowie lange Einheiten im schnellen Marschtempo (9:00 Min / KM) und harte Doppel- und Dreifacheinheiten. Die „schönste“ Einheit die mir in Erinnerung geblieben ist: Freitagabend 30 Kilometer, Samstag früh 30 Kilometer, Samstagnacht 30 Kilometer, Sonntag 30 Kilometer. Wobei die Sonntagseinheit die schnellste in diesem Block hätten sein sollen (was mir leider nicht gelungen ist). Unabhängig von solchen kleineren Rückschlägen lief das Training sehr glatt und ich konnte Monat um Monat spüren wie mir die Einheiten leichter gefallen sind. Abschluss meine Vorbereitung war die „I Run 661“ Challenge im März, wie schon im letzten Jahr ging es darum 661 Kilometer in 31 Tagen zu laufen. Anders als im letzten Jahr, wo ich nahezu täglich unterwegs war, lief ich dieses Jahr deutlich weniger, aber längere Einheiten. Das Highlight der Challenge, war der Steigerwald Panorama Weg. Zusammen mit Michael und die letzten 20 Kilometer zusätzlich von meiner Frau und unseren Hunden unterstützt, liefen wir den kompletten Wanderweg ab und legten dabei ca. 170 Kilometer und über 3000 Höhenmeter zurück. Insgesamt absolvierte ich, seit Dezember, ca. 2200 Kilometer, davon 14mal marathon oder (teils deutlich) weiter. Ich fühle mich besser auf diesen Wettkampf vorbereitet als jemals zuvor. Entsprechend optimistisch fällt auch meine Wunschzeit aus: 36 Stunden. Damit wäre ich, in den letzten Jahren, immer in den vorderen Plätzen gelandet.

Am Ende des Steigerwald Panorama Wegs

Organisation und Packen

Für den Goldsteig erarbeitete ich, zusammen mit meiner Frau, ein Roadbook, mit Treffpunkten im Abstand von ca 10 bis 15 Kilometern. Das war hilfreich, zum einen weil ich einige Abschnitte mit den Hunden gelaufen bin, zum anderen, weil es auf der Strecke nur zwei Versorgungsstationen gab. Beim Durchgehen der Hexenstieg Strecke bleibt Ratlosigkeit: An nahezu jedem guten Treffpunkt gibt es auch einen Versorgungspunkt. Die Planung fällt daher recht knapp aus: Wir treffen uns erstmalig bei Kilometer 60, am dritten Versorgungspunkt. Von dort aus pilgert Sie von VP zu VP mit. Ab Bodeblick, dem letzten Versorgungspunkt des Hinwegs (~ KM 92), laufen wir gemeinsam bis zum Zwischenziel nach Thale. Gemeinsam bedeutet in diesem Fall zu viert: Sie mit Tuaq, ich mit Amak. In Thale werde ich eine längere Pause einlegen, etwas essen und mich umziehen. Meine Frau begleitet mich dann zurück, wieder bis Bodeblick, dieser Versorgungspunkt wird sowohl auf den Hin- als auch auf dem Rückweg, jedoch jeweils auf unterschiedlichen Routen, angelaufen. Somit werden wir ca. 18 Kilometer gemeinsam bewältigen. Am zweiten Tag werden wir uns, sofern ich gut durch die Nacht komme, nur einmal, am vorletzten Versorgungspunkt, treffen. Der Letzte ist, mit dem Auto, nicht erreichbar.
Das Packen der Ausrüstung erweist sich wieder als kleine Wissenschaft. Was muss in den Rucksack, was ins Dropback, was in den Support Rucksack. Zwar gibt es, anders als beim Goldsteig, zwar keine lange Liste an Pflichtausrüstung, dennoch gestaltet sich der Inhalt ähnlich: Stirnlampe, Batterien, erste Hilfe Ausrüstung, Notfallschlafsack, Wechselkleidung, Regenschutz und wärmende Kleidung für die Nacht.
Die Übung vom Goldsteig und dem Steigerwald Lauf zahlt sich jedoch aus, die Auswahl an Ausrüstung fällt deutlich zweckmäßiger und gewichtsbetonter aus. Mein neuer Rucksack, den mir ebenfalls Michael besorgt hat, ein Dragon 20 von Montane, ergänze ich um einen Laufgürtel mit Tasche (Bite 1, ebenfalls Montane) hier drin kann ich bequem Kamera, Navi und ein paar Vorräte verstauen. Das erleichtert nicht nur den Zugriff, sondern sorgt auch für eine bessere Gewichtsverteilung. Obwohl meine Ausrüstung, mit Wasser, etwa 5,5 Kg wiegt, spüre ich die Last, deutlich weniger als letzte Jahr auf dem Goldsteig.
Neben Laufausrüstung gilt es noch alles einzupacken was man für ein paar Tage Camping mit den Hunden benötigt. Das dauert insgesamt fast den ganzen Tag und das Auto ist am Ende bis zur Dachkante gefüllt.

Mittwoch – Anreise

Unsere Anreise zieht sich. Durch einen Stau auf der Autobahn erreichen wir schließlich unser Ziel über diverse Landstraßen. Als wir endlich am Camping Platz ankommen fühle ich mich schlapp und starke Kopfschmerzen plagen mich. Das liegt wahrscheinlich auch am Wetter, die Temperaturen sind sprunghaft gestiegen, liegen deutlich über 25 Grad. Laut Wetterbericht soll das heute und morgen so bleiben, für Freitag, den Start des Laufs, soll es deutlich kühler werden. Ich hoffe das bewahrheitet sich, die Hitze aus dem letzten Jahr ist mir noch zu gut im Gedächtnis.
Unser Campingplatz liegt direkt an einem kleinen Fluss, die Anlage ist sauber und ruhig. Der gute erste Eindruck wird sich in den nächsten Tagen bestätigen. Nachdem wir alles aufgebaut haben, gönnen wir uns und vor allem den Hunden, etwas Bewegung. Im Anschluss fahre ich in die Stadt, um Vorräte für die nächsten Tage einzukaufen.
Nach dem Essen und abschließenden Abendspaziergang mit den Hunden gehen wir früh zu Bett. Für morgen ist zunächst eine Wanderung mit den Hunden geplant, am Abend steht das Briefing an, ansonsten möchte ich den Tag nutzen, um mich auszuruhen.

Donnerstag – Harz Erkundung

Meine Kopfschmerzen sind über Nacht nicht besser geworden, ich hoffe das sich das bis morgen legt. Nach einem Frühstück brechen wir zu unserer geplanten Wanderung auf. Der Einstieg liegt direkt gegenüber des Zeltplatzes. Auf einem breiten Waldweg marschieren wir beständig bergan, nach einiger Zeit erreichen wir eine Kreuzung, biegen rechts ab und befinden uns nun auf dem Hexenstieg Wanderweg. Hier werde ich morgen auch vorbeikommen. Es geht weiter vorrangig bergauf, nach etwa zwei Kilometern erreichen wir den Eselsplatz, die zwei hölzernen Grautiere erregen, insbesondere, das Interesse unserer Hunde.
Der kurze Ausflug, auf meine morgige Strecke, endet an dieser Stelle, wir biegen rechts ab und folgen einem ansprechenden Single Trail, der hinab zu einem Stausee führt. Der Anblick von der Staumauer ist atemberaubend: Blauer Himmel, tiefblaues Wasser, auf dem sich die Waldränder spiegeln. Die Vorfreude auf den morgigen Lauf wächst.

Von hier aus treten wir den Rückweg zum Zeltplatz an, dieser fällt deutlich länger aus als beabsichtigt, der direkte Weg ist wegen Forstarbeiten gesperrt. Mit Hilfe des mitgenommenen Navis findet sich eine Umgehung. Fast drei Stunden waren wir unterwegs, das soll für heute reiche, in den kommenden zwei Tagen werde ich noch genug vom Harz sehen. Den Rest des Tages verbringe ich mit ausruhen, am Nachmittag steigt die Temperatur wieder deutlich an, die Intensität der Kopfschmerzen steigt mit der Temperatur. Der Wetterbericht für die nächsten Tage hat sich etwas verschlechtert: Immer mal wieder ist mit Schauern zu rechnen, aber auch mit viel Sonne bei moderaten Temperaturen, alles im allen gute Bedingungen wie ich finde.

Donnerstag – Briefing

Knapp eine Stunde vor dem Briefing treffe ich im Hotel Harzer Hof ein. Es sind bereits einige Teilnehmer anwesend, bekannte Gesichter suche ich aber vergebens. Michael ist, als Organisator, natürlich anwesend, jedoch auch „der gefragteste Mann“ der Stunde. Wir begrüßen uns und unterhalten uns kurz, dann nehme ich meine Startnummer in Empfang. Wobei Nummer falsch ist, denn auf Nummern wurde verzichtet, auf jeder „Karte“ ist stattdessen der volle Name abgedruckt. Auf der Rückseite befindet sich eine Übersicht des Höhenprofils sowie die Position der Versorgungspunkte. Gerade Letzteres ist praktisch, eine identische Liste habe ich mir selber erstellt und laminiert.
Die Wartezeit verbringe ich mit läuferischen Smalltalk. Als ich erwähne, das ich vorhabe, den Lauf in weniger als 36 Stunden abzuschließen, begegnet mir vorrangig Unglaube und Zweifel. Die Meisten planen mit deutlich längeren Laufzeiten. Michael, der zufällig in der Nähe ist, steht mir spontan bei, schließlich haben wir zusammen dafür trainiert. Zweifel ob das klappen kann, bleiben dennoch, viel Erfahrung kann ich auf diesen Distanzen noch nicht vorweisen.
Ich bin jedenfalls froh, als das Buffet eröffnet wird und ich somit den Unterhaltungen entfliehen kann. Es gibt Braten, Kartoffeln, Nudeln und Gemüse, ich greife überall herzhaft zu. Die Nacht wird kurz, Start ist um sechs Uhr, kurz nach vier muss ich aufstehen, viel herunterbekommen werde ich um die Uhrzeit nicht, also lieber jetzt noch einmal ausgiebig essen.
Nach dem Essen beginnt das eigentliche Briefing. Über einen Beamer wird die Strecke Abschnitt für Abschnitt vorgestellt. Auf leicht zu übersehende Abzweigungen wird hingewiesen, ebenso auf möglicherweise schwierige Abschnitte. Viele Details werden davon nicht hängen bleiben. Für mich wichtig ist: Die letzten 50 Kilometer sind die schwierigsten, hier lauern viele Höhenmeter aber auch schwieriges Gelände. Meine Kraft muss ich mir bis dahin gut einteilen und vor allem meine Füße vor Verletzungen schützen. Letztes Jahr, auf dem Goldsteig, hatte ich das falsche Schuhwerk an den Füßen und war auf das Durchqueren nasser Wiesen nicht vorbereitet. Das Resultat waren schmerzhafte Blasen an jedem einzelnen Zeh, das möchte ich dieses Mal vermeiden.
Wie schon auf dem Goldsteig wird, bei der Vorstellung der Strecke, an (Galgen-)Humor nicht gespart und man spürt wie die Anspannung und Vorfreude zwischen den Teilnehmern wächst. Der Gastraum ist brechend voll, etwa 30 Teilnehmer laufen, so wie ich, die volle Distanz, weitere 20 laufen bis Thale. Das Briefing für die Starter des Hexentanzes (Thale nach Osterode) findet erst morgen statt. Im Raum sind mehr Personen, sicher noch Helfer und Supporter. 215 Kilometer Strecke sind nicht schnell erklärt und so zieht sich das Briefing bis nach 21 Uhr.
Zurück am Zeltplatz lege ich alles parat, was ich morgen früh benötige, dann versuche ich zu schlafen. Doch Schlaf will sich keiner einstellen, zum einen auf Grund von Aufregung, zum anderen, weil ich mich den Tag schon viel ausgeruht habe und nicht müde bin. Zwei Stunden wälze ich mich von einer Seite auf die Andere, dann stehe ich auf, inzwischen ist es Mitternacht, und gehe eine Runde über den Campingplatz spazieren. Auch danach dauert es noch bis ich Schlaf finde, das letzte Mal sah ich um 1:30 auf die Uhr.

Freitag – vor dem Start

Als der Wecker klingelt, bin ich nicht sicher, ob ich überhaupt geschlafen habe. Ich fühle mich benommen aber immerhin frei von Kopfschmerzen. Ich schlüpfe in meine Laufkleidung: Kurz/Kurz und ziehe Jogginghose und Jacke drüber, dann verlasse ich das Zelt und zwänge mir lust- und appetitlos ein paar Scheiben Brot rein. Gefühlt dauert jeder Handgriff eine kleine Ewigkeit: Anziehen, Essen, Aufräumen, frisch machen, Hunde versorgen, letzte Dinge ins Auto bringen. Es ist schon fünf Uhr durch, als wir den Camping Platz verlassen. Meine Frau bringt mich zum Start und wird anschließend wieder zurück auf den Campingplatz fahren. Bis zum Hotel ist es nicht weit und auch ein Parkplatz ist um diese Uhrzeit schnell gefunden. Gegen 5:30 sind wir vor Ort.
Im Hotel herrscht bereits reges Treiben, Läufer sammeln ihre Ausrüstung oder sitzen beim Frühstück. Die GPS-Tracker werden hinter dem Hotel ausgegeben. Der Reihe nach bekommt jeder den streichholzschachtelgroßen Tracker, mit Klebeband, am Rucksack montiert. Nachdem alle versorgt sind, wird bereits zur Startaufstellung, im benachbarten Park, gerufen. Ich verabschiede mich von meiner Frau, dann nehme ich meinen Platz in dem überschaubaren Starterfeld ein, mache meine Trailstöcke einsatzbereit und zupfe noch den Rucksack zurecht. Letzteres lohnt sich nicht, denn zunächst findet noch eine Ausrüstungskontrolle im Schnellformat statt: Stirnlampe und Handy sollen wir vorzeigen, die Lampe befindet sich in einem Beutel im Rucksack, also absetzen, heraussuchen, vorzeigen und wieder alles einpacken und an seinen Platz rücken.
Kaum habe ich den Rucksack wieder auf dem Rücken, wird auch schon der Countdown angestimmt.

Das Rennen – Hexenritt

Unsere kleine Gruppe setzt sich in Bewegung. Die ersten Meter noch auf der breiten Wiese, nach und nach scheren wir auf einen schmalen Schotterweg ein, der am Rand des Parks verläuft. Das Tempo ist verhalten, dennoch bilden sich schon bald kleine Gruppen. Ich sortiere mich auf diesem ersten Kilometer noch, rücke den Rucksack zurecht, schaffe Platz im Gürtel für die Kamera.

Der Weg verjüngt sich, führt an ein paar Häusern vorbei. Wir biegen ab und laufen nun am Rand der Ausfallstraße, würde ich dieser weiter folgen, würde ich nach drei Kilometern unseren Zeltplatz erreichen. Bis ich wirklich dorthin zurückkehre, wird viel Zeit vergehen, wenn es gut läuft wenigstens 36 Stunden. Ich versuche, mir diese Tatsache zu verinnerlichen, mich darauf einzustellen für so viele Stunden auf den Beinen zu sein. Die Gedanken daran lassen mich meine Schritte sofort langsamer setzen, bloß keine Kraft verschenken, es ruhig angehen, das gelernte umsetzen. Wir setzen auf die andere Straßenseite über und der erste Anstieg beginnt.
Ich klinke meine Stöcke in den Handschuhen ein und beginn den lautstarken Aufstieg. Handgriffe die schon sehr bald intuitiv ablaufen werden, jetzt schaffe ich es, mir selbst ein Bein mit dem Stock zu stellen. Ein guter Anfang. Ein wenig schlechtes Gewissen begleitet mich, es ist früh am morgen und wir durchlaufen ein Wohnviertel. Ich versuche, meine Stöcke, wo es geht auf dämpfenden grün abzusetzen. Zum Glück lassen wir die Wohnhäuser bald hinter uns zurück.
Ich unterhalte mich mit einem älteren Läufer, wir sind uns bereits gestern beim Briefing begegnet, dennoch vergesse ich, nach dem Namen zu fragen. Für ihn ist es die zweite Teilnahme. Er erzählt mir das er sich das letzte Mal, direkt zu beginn, verlaufen hat. Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr einem das mental zusetzt. Viel Zeit und Distanz verschenken, abgehängt vom Feld und noch mehr als 200 Kilometer vor einem. Bräuchte es noch eine Mahnung regelmäßig das Navi zu bemühen, wäre sie hiermit erbracht.
Unser weg führt beständig bergauf. Zunächst laufen wir durch offenes Gelände, doch wenig später umschließt uns dichter Wald. Der Weg führt beständig bergan, vereinfacht dargestellt wird sich daran, auf den ersten 50 Kilometern, bis zum Brockengipfel, wenig ändern. Die Steigung fällt meist moderat aus, definitiv laufbar. Die Verführung den Hang hinaufzustürmen ist gewaltig, auch mein Begleiter wechselt häufiger ins Laufen als ich. Auf den flacheren Abschnitten hohle ich ihn aber immer wieder ein, einstweilen bilden wir somit ein Laufduo. Diszipliniert zu bleiben kostet mich Überwindung. Das Ziel meines Begleiters liegt bei etwa 40 Stunden, ich möchte nach 36 Stunden die Ziellinie überqueren und dennoch bin ich, derjenige der bremst. Entweder bin ich zu langsam unterwegs oder er zu schnell.
Das Feld hält sich erstaunlich lange zusammen, regelmäßig überholen wir und ebenso regelmäßig werden wir überholt. Die Gesichter sind dabei immer die Gleichen. Besondere Aufmerksamkeit zieht der einzige Läufer im Feld mit Radbegleitung auf sich. Ein wenig neidisch ist man da schon, ganze ohne die Last eines Rucksacks laufen zu können. Ebenso befreit von der Navigation, denn auch die übernimmt der Radler. Mit diesem möchte ich jedoch nicht tauschen, die vielen Trailkilometer auf dem Drahtesel überwinden zu müssen stelle ich mir jedenfalls nicht angenehm vor. Ob die Teamarbeit nun ein Vorteil ist, oder nicht, in meinen Augen, unerheblich, die 215 Kilometer müssen wir letztlich alle alleine unter die Sohlen nehmen.
Wir sind schon fast eine Stunde unterwegs, im Augenblick in einer großen Gruppen bestehend aus 7 oder 8 Läufern, als die ersten Navigationszweifel aufkommen. Eine Weggabelung am Hang die sich im spitzen Winkel teilen. Auf meine Karte existiert die Abzweigung nicht. Anhand der Karte erscheint mir links schlüssiger, allerdings fällt der Weg ab, wo wir insgesamt bislang nur aufwärts laufen. Ich bin froh, die Entscheidung nicht alleine fällen zu müssen, während Karten studiert werden, nutze ich die Gelegenheit um die, über dem Harz aufgehende Sonne, festzuhalten.

Wir wählen den rechten Weg und laufen weiter bergan, was sich als richtig erweisen soll. In der aufgehenden Sonne ist es angenehm warm. Der Waldweg ist hier etwas breiter, die Bäume etwas lichter als bisher. Während ich bislang in erster Linie mit mir selbst beschäftigt war, z.B. um Tempo und Rhythmus zu finden, nehme ich nun den Wald um mich herum endlich richtig wahr. Sattes grün und grelle Farben wohin das Auge reicht, der Frühling hat mir aller Macht Einzug erhalten, ich atme tief durch und genieße es im Hier und Jetzt zu sein.

Wir passieren eine Kreuzung und schlagartig kommt mir die Gegend bekannt vor, hier sind wir gestern entlanggewandert. Die Kiepenfrau am Wegesrand (von meiner Frau fälschlicherweise der Hexerei bezichtigt) springt mir sofort wieder ins Auge. Wenig später erreichen wir den Eselsplatz und der kurze bekannte Abschnitt endet.
Die Steigung hat spürbar abgenommen, die meiste Zeit verbringe ich im Laufschritt. Während wir bislang ausschließlich auf breitem Waldweg unterwegs waren, sind erste Anflüge von Trail zu erkennen. Der Weg ist, abschnittsweise, überwuchert und ein oder zweimal gilt es umgestürzten Bäume zu umlaufen.
Langsam aber sicher bahnt sich das notwendige Ende meiner Laufpartnerschaft ab, auf der Ebene bin ich etwas schneller und so vergrößert sich unser Abstand stetig. Für wenige Minuten bin ich allein auf weiter Flur, dann werde ich erst von Rad und wenig später vom dazugehörigen Läufer überholt.
Unvermittelt taucht eine Lichtung vor mir auf: Eine See, in dem sich Bäume und Sonne spiegeln, eine Blockhütte und ein schmaler Dammweg, der beides voneinander trennt. Ein wunderschöner, fast schon kitschiger Anblick.

Inzwischen bin ich eine Stunde und 35 Minuten unterwegs, etwas mehr als zwölf Kilometer habe ich dabei abgeleistet. Die Strecke gestaltet sich bislang als zahmer als erwartet, ich fühle mich ausgeruht und kräftig, was meine ohnehin schon gute Laune weiter verstärkt.
Der Weg wird etwas schmaler und ist häufiger mit Wurzeln durchzogen, mit minimaler Steigung geht es weiter gut voran. Inzwischen kann ich vor mir eine Gruppe aus drei Läufern ausmachen, Meter und Meter mache ich gut. Ich habe die Drei noch nicht ganz eingeholt, als der Weg in einen groben Trail übergeht. Über Wurzeln geht es eine kurze, aber steile, Rampe hinauf. Oben angekommen erstreckt sich ein weiterer See. Die Truppe biegt links ab, ein intuitiver Blick auf mein Navi lässt mich die Stirn runzeln, wir müssen rechts am See entlang. Nach einem zweiten prüfenden Blick rufe ich die Drei zurück.
Ich lasse die Gruppe passieren und nehme ein Foto auf. Bilder mit ausgeruhten Läufern haben auf Ultras dieses Umfangs Seltenheitswert. Nachdem der letzte passiert hat, hänge ich mich an und vergrößere die Gruppe auf vier.

Wir lassen den See zurück und folgen einem wurzeligen Trail, weiter bergauf. Unvermittelt verlassen wir den Pfad und folgen einem noch schmalerem, der den Hang hinauf führt. Hätte ich den alleine auf Anhieb entdeckt? Unwahrscheinlich. Wir passieren einen kleinen Tümpel und stoßen wieder auf einen breiteren Forstweg.
Schon bald gabelt sich die Straße erneut und wir folgen einem schmaleren, aber gut laufbaren geschotterten Waldweg, zunächst ein Stück abwärts, schon bald wieder leicht ansteigend.

Für eine Weile laufen wir an einem Graben entlang. Die Bäume um uns herum bilden einen Tunnel aus leuchtendem grün. Unser Tempo fühlt sich schnell an, wahrscheinlich etwas zu schnell. Für den Augenblick lasse ich es zu, es macht einfach zuviel Spaß. Außerdem ist der Abschnitt so einfach, zu laufen, dass ich nicht das Gefühl habe, viel Kraft zu verschwenden. Wir überqueren eine schmale Holzbrücke, nicht viel mehr als ein Brett und biegen auf einen breiteren Weg ein. Unsere Gruppe harmoniert sehr angenehm. Regelmäßig wechseln wir uns, ohne jede Absprache mit der Führungsarbeit ab, wer vorne ist, übernimmt auch die Navigation. Unsere Geschwindigkeit hat sich inzwischen wieder normalisiert, wir hetzen uns nicht, bummeln aber auch nicht unnötig.
Wir laufen an hohen, alten Bäumen vorbei, auch der Graben hat unlängst wieder zu uns aufgeschlossen. Für Erheiterung sorgt ein Wegweiser nach Thale, auf eine Kilometerangabe hat man verzichtet, zumindest auf unserer Strecke sind es noch knapp 90 Kilometer bis dorthin.
Wir verlassen den gut ausgebauten Weg und folgen einem schmalen Pfad, der uns an den Rand der Bundesstraße führt. Nach so viel Grün und Wald wirkt der Anblick befremdlich auf mich. Wir lassen ein paar Autos passieren und setzen dann auf die andere Seite über. Für wenige Minuten bleiben wir in Sichtweite der Straße, dann biegen wir nach links ab und tauchen aufs Neue in den Wald ein.
Bis zum ersten Verpflegungspunkt sollte es nun nicht mehr weit sein. Ich trage zwar alles, was ich benötige, bei mir, aber ein Zwischenziel erreicht zu haben, tut immer gut.
Nach einiger Zeit taucht vor uns wieder das Rad und Läufer Duo auf. Wir schließen auf und bilden nun eine große Gruppe.

Der Wald bietet einige Abzweigungen. Mehrfach halten wir inne, um die Navigation zu prüfen, treffen dabei aber immer die richtige Entscheidung und kommen ohne Irrwege voran. Die Strecke beschreibt dabei ein beständiges Auf und Ab.
Nach einigen Minuten treten wir aus dem Wald heraus und befinden uns auf einem hohen Erdwall. Zu unserer rechten ist, einige Meter tiefer, die Bundesstraße zu sehen, zur linken erstreckt sich Wald, soweit das Auge reicht. Vor uns kann ich einige Häuser erkennen, das Dammhaus, der erste Versorgungspunkt. Ich setze mich an die Spitze unserer Gruppe, weniger um das Tempo zu erhöhen, als um mehr Armfreiheit um mich herum zu haben. Ich stecke die Kamera in den Laufgürtel und krame ein erstes Gel hervor. Mit der Ausrüstung in der einen und den Stöcken in der anderen Hand ein ziemliches Gefummel.

Unter dem Applaus der anwesenden Helfer, darunter auch Michael, laufen wir an Versorgungspunkt ein. Es gibt Wasser und Iso, dazu Gummibärchen, Salzstangen, Schokolade und Nüsse. Ich greife überall reichlich zu. Früher hatte ich Bedenken, hinsichtlich der Magenverträglichkeit, inzwischen weiß ich das es genau dieser bunte Mix ist, den ich brauche. Vor allem muss mein Magen gefüllt sein und der vermeldet schon seit längerem Nachfüllbedarf. Inzwischen sind wir 2:40 unterwegs und haben etwas mehr als 20 Kilometer absolviert.
Ich bin mir unsicher ob die übrigen in der Gruppe bleiben wollen, nachdem Durst und Hunger gestillt sind, warte ich noch etwas, dann setzte ich mich betont langsam in Bewegung. Etwa eine Minute später sind wir wieder zu viert unterwegs. Rad und Läufer haben den Versorgungspunkt deutlich vor uns verlassen.
Wir folgen einem Waldweg, der schon bald in einen Trail übergeht. Wir laufen durch dichtstehende Bäume, steigen über Wurzeln und gewinnen dabei weiter an Höhe. Nach einer Biegung öffnet sich vor uns eine Schneise der Verwüstung aus umgestürzte Bäume und herumliegenden Ästen. Zwei Waldarbeiten sind dabei aufzuräumen, schwer vorstellbar wie viel Aufwand es bereiten muss eine so breite Schneise zu bereinigen.

Vorsichtig bahnen wir uns unseren Weg über die Ebene, Stolperfallen gibt es zuhauf. Nachdem das Hindernis überwunden ist, stoßen wir wieder auf breiten Waldweg, der sich mühelos laufen lässt. Wir schneiden eine der Kehren über einen kurzen Trail, ebenso die Nächste. Den Einstieg hätte ich jedoch übersehen, erneut zahlt es sich aus als Gruppe unterwegs zu sein.
Ein weiteres Mal überqueren wir die Bundesstraße und biegen in den nächsten Waldweg ein, den Dammweg. Wieder folgen wir dem Kanal. Der Pfad ist breit genug, das man zu zweit nebeneinander laufen kann und steigt nur moderat an, lässt sich somit problemlos im Laufschritt bewältigen. Hohe Bäume zu beiden Seiten, reizvolle Aussichten lauern hinter jeder Biegung.

Kilometer um Kilometer arbeiten wir uns den Dammweg hinauf. Weiterhin wechseln wir uns regelmäßig mit der Führungsarbeit und Navigation ab, wobei es auf dem Abschnitt kaum Abzweigungen gibt und somit keine Gefahr zum Verlaufen besteht. Mehrfach überqueren wir kleine Brücken oder Schleusen. Einmal öffnet sich das Gelände und eröffnet uns einen Fernblick über das Örtchen Altenau, ansonsten bleiben wir im Wald. Außer einer kleinen Gruppe von Wanderern begegnet uns niemand.

Etwa vierzig Minuten folgen wir so beständig dem Weg. Die Abzweigung, in Form einer Brücke, übersehen wir zunächst. Der Fehler ist jedoch schnell bemerkt und berichtigt. Auf der anderen Seite beginnt ein steiler, mit Wurzeln und Steinen überzogener, Weg. Sofort wechseln wir in den Gehschritt. Nach dem langen Laufabschnitt bin ich gar nicht böse um die kurze Verschnaufpause, besonders durch den Einsatz der Stöcke komme ich mühelos hinauf.
Auf diesem Abschnitt verlieren wir einen Mitstreiter, er greift zum Handy um zu telefonieren, und schließt nicht wieder auf.

Nach einiger Zeit erreichen wir, nun nur noch zu dritt, eine Landstraße. Unser Weg bleibt dicht an der Straße und führt beständig stramm bergan. Wir übersteigen Wurzeln und Steine, laufen abschnittsweise auf Bohlen. Der Bach fließt, die meiste Zeit über, zu unserer Rechten. Der Abschnitt ist fordernd, aber das viele Marschtraining in den vergangenen Monaten macht sich bezahlt. Wir kommen zügig voran und sind bald wieder zu fünft: Wir haben das Läufer, Radler Duo eingeholt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit endet der Anstieg. Wir überqueren die Straße und tauchen auf der gegenüberliegenden Seite wieder in den Wald ein. Unvermittelt stehen wir in einem Feld der Verwüstung. Umgestürzte und zersägte Bäume türmen sich übermannshoch zu beiden Seiten des Weges auf, nur ein schmaler Durchgang ist passierbar. Angesichts der gefallenen Giganten fühle ich mich winzig und der Gedanke daran welche Gewalten nötig sein müssen, um diesen Schaden einzurichten, lassen mich erschaudern.

Auf das Trümmerfeld folgt breiter Waldweg, der wieder stramm aufwärts führt. Weg geht in Trail über, wir laufen durch dichten Nadelbaumbewuchs. Der Pfad wandelt sich erneut und wird durch weites, offenes, Gelände ersetzt. Die grobe Orientierung ist aufwärts, ein genauer Weg ist nicht zu erkennen, wir suchen einen gangbaren Weg durch das Gehölz. Wie mühelos der Mountainbiker vorankommt, versetzt mich ins Staunen.

Das offene Gelände endet und die Steigung lässt spürbar nach, wir traben wieder an. Nach wenigen Minuten lassen wir den Wald hinter uns und stehen unvermittelt vor einer breiten Straße. Wir laufen am Rand einer Feriensiedlung (?) entlang, der nächste Versorgungspunkt, Torfhaus, liegt vor uns. Es geht noch einmal steil bergan, eh wir unseren VP sehen, hören wir ihn. Laute Partymusik scheppert aus einem Gettoblaster. An einem großen Tisch wartet die Versorgung auf uns.

Die Auswahl am Versorgungspunkt kommt mir leider nicht gelegen, Schwerpunkt bilden Käsestangen, da ich Käse nicht gut vertrage, fallen die für mich aus. Ich bediene mich am Obst und trinke reichlich Iso. Die ersten 34 Kilometer sind geschafft, das „kleine Finale“ der ersten Strecke liegt aber bereits vor uns: Zunächst müssen wir den Achtermann und anschließend den Brocken bezwingen. Natürlich folgen auch im weiteren Streckenverlauf noch Anstiege, aber keine im vergleichbaren Umfang. Bis zum nächsten Versorgungspunkt sind es von hier aus etwa 30 Kilometer. Theoretisch könnte man sich auf dem Brocken, in der Gaststätte, versorgen, davon möchte ich jedoch auf keinen Fall gebrauch machen. Ich hätte daher gerne hier nochmal etwas feste Nahrung zu mir genommen, um mich zu stärken. Sorgen mache ich mir keine, ich habe genug eigene Verpflegung dabei, ich darf nur nicht zu lange zögern von dieser gebrauch zu machen.
Während die anderen sich versorgen, schnüre ich meine Schuhe neu und leere eingefangene Steinchen aus. Während ich auf die Übrigen warte, erklärt man mir den Streckenverlauf: Straßenseite wechseln und nach einem Container links ab. Nach etwa fünf Minuten sind alle soweit und wir machen uns wieder auf den Weg.
Wir laufen wie geheißen und finden uns auf einem Wanderweg wieder. Wir überholen gleich mehrere größere Gruppen Wanderer, der ein oder andere wünscht uns viel Erfolg oder bekundet durch Klatschen sein Wissen um unser Treiben.
Erneut folgen wir dem Verlauf eines Wassergrabens, während wir auf einem Waldweg mit moderater Steigung laufen.

Wir biegen rechts ab und lassen den Wassergraben hinter uns. An der nächsten Kurve zögere ich, gerade laufe ich vorne. Laut Navi vermute ich, das wir auf dem Weg bleiben müssen. Zu meiner Rechten beginnt jedoch ein Trail, der einfach nach „Meldeläufer Trail“ aussieht. Wir beratschlagen uns noch als uns das Radler Duo einholt, mir war gar nicht bewusst das wir den VP vor den Zweien verlassen haben, es wundert mich etwas, da das Team auf jeden Fall vor uns angekommen sein muss. Wir stecken die Navis zusammen und beschließen: Meine Intuition war korrekt, der Trail ist richtig.
Es geht steil bergan und auf einmal liegen Schneehaufen vor uns. Das sorgt für kurze Erheiterung und fliegende Schneebälle – der Spaß soll ja nicht zu kurz kommen.

Nach dem kurzen Intermezzo geht es stramm bergan, ich fühle mich an die Himmelsleiter des Jokertrails erinnert. Nach nur zwei Kilometern Wettkampf zerlegte eben diese Treppe meinen Kreislauf und brachte mir eine Zwangspause ein. Ich lasse mir, dieser Erinnerung, Warnung sein und schalte einen Gang zurück. Zum Glück ist der Abschnitt nicht sonderlich lang.
Wir erreichen einen breiten, geschotterten Weg, der fast eben dahin führt. Wenig später ist das Radlerduo entfleucht. Ich nutze den Abschnitt, um mich zu erholen, die letzten Minuten haben spürbar Kraft gekostet.
Wir biegen rechts ab und ein langgezogener Abstieg beginnt. Wir nehmen Tempo auf und lassen es rollen.
Am Fuß des Anstiegs kommt uns ein dunkelhäutiger, junger Mann mit geschulterter übergroßer Deutschlandflagge entgegen. Ob er aus Deutschland stammt oder seine Verbundenheit zu einer neuen Heimat bekundet ist für mich unerheblich, ich erwähne es nur, da uns dieser markante Anblick, noch öfters begegnen wird.
Wichtiger ist für mich der Umstand, das sich ein Gefühl von Schwäche in mir auszubreiten beginnt. Gut fünf Stunden sind wir nun unterwegs, mein letzt nennenswerte Mahlzeit liegt etwa sieben Stunden zurück. Ich gönne mir ein Gel und futter ein paar Haferkekse hinterher und hoffe auf Besserung. Die Führungsarbeit überlasse ich Thomas. Richtig, inzwischen kenne ich die Namen meiner Mitstreiter. Thomas ist der ältere der Zweien, Sebastian der Jünger, deutlich jünger als ich.
Wir laufen durch eine kleine Ortschaft, biegen falsch ab und stehen auf Privatgrund, der richtige Weg ist jedoch schnell gefunden. Hier beginnt der eigentliche Aufstieg zum Achtermann.
Wir laufen durch eine mit groben Steinen übersäte Schneise, womöglich ein trockener Schmelzwasserfluss. Nach kurzer Zeit blockieren mehrere mächtige umgestürzte Bäume den Weg. Wir erklimmen das „Ufer“ und suchen einen Pfad durch das Unterholz. Dabei holen wir auch unseren vierten Mann wieder ein, der Radler umfährt das Gelände.

Der Weg durch das Unterholz ist mühsam, nachdem wir das Hindernis umwunden haben, und wieder in der Schneise marschieren, wird es leichter. Es geht beständig bergan, während sich die Landschaft um uns wandelt. Bislang dominierte lebendiges Grün dieses weicht nun grauen, toten Bäumen. Überall liegt Bruchholz auf dem Boden verstreut. Alles scheint, durch die grelle Sonne, die nun ungehindert durch die kahlen Wipfel dringt, zu leuchten. Die Szenerie wirkt faszinierend morbide. Ich habe Bilder, aus Alaska, von einem niedergebrannten und anschließend gefrorenen Wald, gesehen, dieser Anblick erinnert mich daran. Allerdings sind diese Eindrücke live und zum Greifen nah. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, meine Schwäche ist vergessen. Auch zurückblickend ist dies einer der beeindruckendsten Abschnitte des Rennens.

Minute um Minute steigen wir weiter aufwärts, die Steigung hat sich noch einmal spürbar verschärft. Der Schweiß läuft, aber wir kommen zügig voran. Das Totholz um uns herum ist wieder sattem Grün gewichen. Ein gutes Stück über uns kann ich Bewegung ausmachen, jemand kommt uns entgegen, er kommt mir bekannt vor. Hat er sich verirrt, und wir uns ebenfalls? Ein Blick auf mein Navi bescheinigt mir nach wie vor auf Kurs zu sein. Dann erkenn ich ihn – Michael, mit Kamera im Anschlag nimmt er uns auf Korn.

Der Weg flacht ab, Steine und Wurzeln werden seltener und wenig später laufen wir auf einem gut ausgebauten Waldweg. Ein überhaupt nicht hier her passendes Geräusch lässt uns aufhorchen. Während wir noch Rätzeln was es verursachen könnte, weitet sich der Weg zu einer Lichtung. Auf einer Klappleiter montiert ein Handwerker einen neuen Wegweiser – Geheimnis gelüftet. Dahinter macht eine Gruppe Schulkinder, offensichtlich auf Ausflug, Rast, im Hintergrund ist der Gipfel des Achtermanns zu sehen. Ganz hinauf müssen wir nicht, es handelt sich um einen Aussichtspunkt und somit eine Sackgasse.

Unser Weg führ nach links. Auf breitem Waldweg büßen wir die soeben erlaufenen Höhenmeter wieder ein. Meine Beine fühlen sich schwer an, die zeitweise vergessene, Müdigkeit, hohlt mich wieder ein. Vor uns liegt der Brocken, wie die meisten Tage im Jahr in dichten Nebel gehüllt, da müssen wir gleich rauf.
Die Bäume um uns herum werden lichter, einzelne abgestorbene kahle Exemplare sind darunter. Nach einer Biegung blicken wir erneut auf ein Trümmerfeld. Dutzende, wenn nicht gar hunderte, Bäume liegen umgeknickt auf einer Ebene. Diesmal jedoch nicht auf unserem Weg, hier versperrt uns nur ein einzelner Baum den Weg, den wir aber mühelos übersteigen können.

Sebastian bleibt zurück, er möchte noch ein Video drehen, während Thomas und ich langsam weiterlaufen. Wir haben keinen Zweifel das er uns bald einholen wird, im Augenblick wirkt er am frischesten von uns dreien. Der Umstand das meine Wunschzeit einige Stunden flotter ist als seine, gibt mir zu denken.
Der Abstieg endet, eine Weile laufen wir noch auf ebenen Waldweg, dann beginnt, ganz gemächlich der Anstieg. Wenig später hat uns Sebastian schon wieder eingeholt. Die Steigung nimmt zu und wir wechseln wieder ins Marschieren.
Der Weg ist breit und lässt sich mühelos marschieren, über uns zieht sich der Nebel zusammen. Das Licht wirkt fahl und schummrig, die Temperatur ist merklich gesunken.

Nach einer kurzen Abwärtspassage beginnt ein Plattenweg, nun wird es steil. Mit jedem Meter den wir an Höhe gewinnen, sinkt die Temperatur und der Nebel nimmt zu. Noch ist es gut auszuhalten, die Bewegung erzeugt wärme, aber wie lange noch? Während wir die letzten Stunden meist alleine unterwegs waren, begegnen uns nun regelmäßig Wanderer. Die meisten belassen es mit einem Gruß, der ein oder andere wünscht uns Glück.

Wir erreichen einen Platz, der junge Mann mit der Deutschlandflagge sitzt auf einer Mauer. Der kannte wohl eine Abkürzung? Wir biegen nach links ab, der Plattenweg geht in einen Schotterweg über. Die Steigung ist spürbar aber überschaubar. Hätten wir nicht noch knapp 170 Kilometer vor uns, wäre das sicher laufbar. Zu unserer rechten liegen die Schienen der Brockenbahn. Nachdem wir einige Zeit am Gleis entlangmarschiert sind, kommt uns der Zug der Brockenbahn entgegen.

Kilometer um Kilometer marschieren wir hinauf. An der Umgebung ändert sich nicht viel, die Schienen zur Rechten, Bäume zur Linken, vor und hinter uns der Weg. Alles weitere wird von dichten Nebel verdeckt. Nach einer gefühlten Ewigkeit stoßen wir auf eine breite, asphaltierte Straße. Die Straße wird viel genutzt, große Gruppen von Wanderern marschieren den Hang hinauf, einzelne Radfahrer kämpfen gegen den Berg an oder schießen hinab. Wir reihen uns ein, der Anstieg ist steil, dennoch läuft kein einziger Schweißtropfen, dafür ist es viel zu kalt. Ich hoffe, dass wir den Gipfel bald erreichen und freue mich darauf, die nebelige Suppe wieder hinter mir lassen zu können.

Nach einer weiteren Viertelstunde schälen sich einige Gebäude aus dem Nebel, Bahnhof und Brockengaststätte. Um den Gipfel zu erreichen, müssen wir noch etwas weiter hinauf. Der Nebel ist so dicht, das ich keine zwanzig Meter weit sehen kann. Plötzlich stupst mich Thomas an. „Da ist der Turm“ Ich muss zweimal hinsehen bis ich das Bauwerk im Nebel erkennen kann, dabei stehen wir praktisch direkt davor.

Eine Minute später stehen wir vor einem großen Stein, der den Gipfel des Brockens markiert: auf 1142 Meter Höhe befinden wir uns. Der Reihe nach wird jeder von uns vor dem Gipfel abgelichtet, das gehört einfach dazu. Thomas kramt in seinen Rucksack, jetzt wo wir stehen, fange ich fürchterlich an zu frieren. Einige Touristen, allesamt in dicke Jacken gehüllt, werfen mir mitleidvolle Blicke zu. Ich habe wärmende Kleidung dabei, aber die jetzt anzulegen macht keinen Sinn. Der Abstieg wird deutlich schneller vollzogen sein, als der Aufstieg und sobald wir uns bewegen, wird es ohnehin besser.

Endlich setzen wir uns wieder in Bewegung. Der Abstieg ist steil, dennoch hält sich der Bremsaufwand in Grenzen und es lässt sich leichter laufen als befürchtet. Auf dem ersten Abschnitt begegnet uns ein weiteres (und letztes) Mal der Flaggenträger.
Mein erstes großes Ziel ist erreicht. Die Hälfte des Hinwegs ist geschafft, ebenso ein Großteil der Höhenmeter. An den Rückweg verschwende ich noch keine Gedanken, eins nach dem Anderen. Mein nächstes kleines Zwischenziel ist der nächste Versorgungspunkt. Dort werde ich auf meine Frau treffen und ich werde dort ausgiebig essen können. Der Hunger ist in den letzten Minuten schlagartig zurückgekehrt. Das nächste große Zwischenziel ist auch nicht Thale, sondern das Hotel Bodeblick. Von dort an laufe ich zusammen mit meiner Frau und den Hunden und bis dahin ist es nicht mal mehr ein Marathon. Das klingt doch alles deutlich näher als sich zu sagen, noch mehr als 160 Kilometer bis ins Ziel.
Auf der abschüssigen Betonpiste lässt es sich mühelos laufen. Unsere Kilometerzeiten liegen bei knapp über der fünf Minuten Marke. Die zehn Kilometer, bis zum VP, geht es nun nahezu durchgängig bergab. Nach etwa vier Kilometern verlassen wir die Straße und biegen in einen breiten Waldweg ein. Wir laufen über mehrere kleine Hügel, Anstiege die das Höhenprofil kaschiert, aber auch keine große Mühe bereiten.

Wir holen zwei Läufer ein, die offensichtlich als Team laufen. Ich bin mir nicht sicher woher sie stammen, ihre Sprache klingt jedenfalls nordisch, wir werden uns in den nächsten Stunden noch häufiger begegnen und werden uns, wenn nötig, vorrangig mit Händen und Füßen verständigen.
Das Gelände bleibt wellig. Die Steigungen marschieren wir und traben wieder an, sobald es der Weg her gibt. Regelmäßig werden wir überholt und ebenso regelmäßig überholen wir. Aus dem Grüßen dabei entsteht ein Ritual, das beidseitig für Erheiterung sorgt.
Ein oder zweimal verpassen wir eine unerwartete Abzweigung, es bleibt aber jedes Mal bei wenigen Meter Umweg.

Nach einiger Zeit passieren wir eine große Gruppe älterer Wanderer, die am Wegesrand eine Rast einlegen. Sie applaudieren uns zu und rufen uns hinterher „Die zwei vor euch habt ihr gleich eingeholt!“ Wir grüßen zurück und schließen tatsächlich wenig später zu den Zweien auf, kaum in Sichtweite stürzt einer der Beiden. Wir halten, doch schon ist er wieder auf den Beinen, er wirkt erschrocken ansonsten aber unverletzt. Für einige Minuten bilden wir eine große Gruppe, dann setzten die zwei sich wieder von uns ab.
Der Weg flacht weiter ab, wird breiter und besser ausgebaut, wir müssen ganz dicht am Versorgungspunkt sein. Nach einer Biegung kann ich vor mir zwei Hunde ausmachen, die kenne ich doch! Nach kurzer Unsicherheit erkenne ich die Beiden: Amak und Tuaq, mit Susann und Michael im Schlepptau. Die Begrüßung fällt herzlich aus. Meine Frau hat noch gar nicht mit uns gerechnet, wir sind anscheinend gut in der Zeit. Tatsächlich habe ich jedes Gefühl für Zeit verloren und keine Ahnung wie spät es ist. Nachdem die Hunde begrüßt sind und wir uns kurz ausgetauscht haben laufen wir gemeinsam das letzte Stück zum Versorgungspunkt. Amak und Tuaq nehmen die Herausforderung an und in einem kurzen Anflug von Unvernunft wetzen wir im Sprint den Hang hinab.

Der Versorgungspunkt liegt am Rand eines großen Parkplatzes. Vor einem Wohnmobil sind mehrere Tische und Stühle aufgebaut. Hier gibt es alles was das Läuferherz begehrt, Brot, Salzstangen, Schokolade, Gummibärchen, Wasser, Iso, Suppe und noch vieles mehr. Ich habe Hunger und greife überall zu, meine Frau bringt noch Brötchen dazu. Brot und Brötchen haben sich, auf den langen Ultras, zu meiner liebsten Ernährung gemausert. Sie geben Kraft, füllen den Magen und halten auch eine Weile vor. Jetzt werde ich regelmäßig in den Genuss kommen. Während wir essen, berichte ich von dem Weg bisher. Bislang lief das erstaunlich gut, natürlich merke ich, dass ich schon viele Stunden auf den Beinen bin, aber. „Ich habe mich nach deutlich weniger Kilometern schon deutlich beschissener gefühlt.“ Bringt es sehr gut auf den Punkt.
Wir lassen uns Zeit, fast zehn Minuten verbringen wir schlemmend am Versorgungspunkt. Das Anlaufen fällt schwer. Es wird einige Kilometer dauern, bis die Trägheit weicht. Zum Glück ist die Strecke einfach zu laufen. Einem breiten Waldweg folgend verlieren wir gemächlich an Höhe.

Bis zum nächsten Versorgungspunkt sind es etwa 14 Kilometer. Eine überschaubare Entfernung und mein neues Zwischenziel. Zwanzig Minuten lang laufen wir im Wald. Die Landschaft um uns verändert sich kaum, Bäume recht, Bäume links. Wir passieren einen Grillplatz und werden von einer Gruppe Jugendlicher gegrüßt, ein oder zwei Wanderer begegnen uns. Zwei oder dreimal tauschen wir Positionen mit den „Nordmännern“, ansonsten passiert nicht viel. Die einfache Strecke verleitet dazu sich auszuruhen, um meine Zielzeit zu erreichen, darf ich aber genau das nicht tun, ich muss jetzt dran bleiben und Strecke machen. Aus diesem Grund übernehme ich von nun an, häufiger die Führungsrolle und versuche das Tempo hochzuhalten. Dabei stellt sich mir die Frage, wie lange ich in dieser, nach wie vor gut funktionierenden, Gruppe noch verbleiben kann, sicher nicht bis ins Ziel, dafür liegen unsere Wunschzeiten zu weit auseinander.
Wir erreichen den Rand einer kleinen Ortschaft und laufen ein Stück an der Straße entlang. Über einen Fußweg erreichen wir einen kleinen Park, an dem sich eine größere Gruppe Touristen aufhält. Der Wasserfall im Hintergrund ist so unerwartet, das ich ihn zunächst glatt übersehe.

Während wir Fotos aufnehmen, entsteht ein Gespräch mit der Gruppe. Das wir hier sind um 215 Kilometer, ohne zu schlafen, laufen wollen, stößt auf Unglaube. Vor wenigen Jahren wäre es mir wohl nicht anders ergangen. Schließlich wünscht man uns alles Gute und wir setzen unsere Reise fort.
Wir stoßen wieder auf die Straße und laufen durch die Ortschaft hindurch. Ein Teil der Strecke führt über einen schmalen Trail, parallel zur Straße. Nach einem weiteren Stück Ortschaft folgen wir einem Radweg, dann biegen wir links ab und laufen auf einen Wald zu und lassen das Örtchen endgültig hinter uns.
Nach einem kurzen Zubringen stoßen wir auf einem breiten geschotterten Waldweg der nahezu eben an einem Fluss, der Bode, entlangführt. Dem Lauf des Flusses werden wir nun, grob, bis nach Thale folgen.
Wir laufen nicht durchgängig, sondern wechseln mehrfach, zur Erholung, ins Gehen. So recht zufrieden bin ich damit nicht, es ist der einfachste Teil der Strecke, eigentlich müsste ich Tempo machen. Auf der anderen Seite kann ich nicht leugnen, dass die Gehabschnitte gut tun. Von dem Energieschub des letzten Versorgungspunktes ist nicht mehr viel übrig. Erneut spüre ich Hunger, ich knapper ein paar meiner Kekse, als Gegenmaßnahme.
Auf dem Gehabschnitten werden wir wieder von unserem ausländischen Duo überholt, nach dem Antraben haben wir sie bald wieder eingeholt. „You Again!“ Empört sich einer der Zweien scherzhaft. Überrascht bin ich als wir wieder auf das Läufer, Radler Duett stoßen. Er sieht kreidebleich und angeschlagen aus, hat es wahrscheinlich übertrieben und plötzlich bin ich dankbar, in dieser Gruppe zu laufen. Dadurch das jeder von uns seine schwachen Phasen hat, übertreiben wir es bislang nicht mit dem Tempo. Vielleicht hätte ich mich sonst gerade auf diesem Abschnitt auch aufgerieben.

Kilometer um Kilometer vergehen. Meine Frau ruft mich an, sie findet den Versorgungspunkt nicht. Die genaue Position kenne ich auch nicht, ich beruhige sie das wir noch lange brauchen und sie genug Zeit hat sich in Ruhe umzuschauen. Davon abgesehen ist eine kurze Steigung die einzige Abwechslung auf diesem Abschnitt. Inzwischen ist es kühler geworden, der Himmel ist wolkenverhangen, bislang sah es nicht so aus, als würde uns noch Regen heimsuchen, nun bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stoßen wir auf eine Straße und wenig später auf die Ortschaft, „Rübeland“. Irgendwo im Ort ist der Versorgungspunkt, aber bis dahin sollten es noch fast zwei Kilometer sein. Wir laufen an einer gewaltigen Industrieanlage vorbei. Ein Monstrum aus Hallen und Förderbändern. Was für ein Kontrast zu den Wäldern und Bergen, die wir bislang gesehen haben.
Nachdem wir einige Häuser passiert haben, folgen wir noch einige Zeit der Straße. Anscheinend hat es sich nur um einen Vorort gehandelt. Schließlich kündigen weitere Häuser die eigentliche Ortschaft an, jetzt wo der nächste VP greifbar nah ist, beschleunigen wir nochmal. Wir unterqueren eine Reihe von Eisenbahngleisen und finden uns auf der Hauptstraße der Ortschaft wieder.
Wir halten die Augen offen, wir wissen, dass sich der Versorgungspunkt in einer Gaststätte befindet, jedoch nicht in welcher. Schließlich entdecken wir eines der blauen Hexenstieg Schilder, überqueren die Straße und betreten den „Tannengrund“.
Meine Frau und die Hunde warten bereits, also hat sie gut hergefunden. Nach einer Begrüßung nehme ich platz. Für uns Läufer ist ein großer Tisch, etwas abseits reserviert. Man serviert uns Getränke nach Wahl, dazu gibt es Kuchen oder Suppe. Ich halte mich lieber an die mitgebrachten Brötchen. Süßigkeiten habe ich im Rucksack genug dabei und mir steht der Sinn gerade mehr nach fester Nahrung.
Der nächste Abschnitt soll wieder etwas technischer werden, erfahre ich von meiner Frau, die weiß das wiederum von Michael. Von hier aus sind es gut achtzehn Kilometer bis zum nächsten Versorgungspunkt, ich schätze das wir 2,5 bis 3 Stunden dafür brauchen werden. Bislang sind wir etwa 10,5 Stunden unterwegs und haben gut 75 Kilometer abgeleistet. Für mich stellt der kommende Abschnitt ein kleines Finale da, ab dem nächsten VP Laufe ich zusammen mit meiner Frau und den Hunden.
Diese Rast fällt etwas kürzer aus, nach gut fünf Minuten sammeln wir uns zum Aufbruch.
Wir überqueren die Straße, folgen ein Stück der Hauptstraße und biegen dann in einer Seitengasse ein. Unser Weg führt an ein paar verfallenen Häusern vorbei, eines besticht mit besonders geschmackvollen vergoldeten Türgriffen. Ein kurioser Anblick, leider ruht die Kamera noch im Bauchgurt. Nachdem wir die Nobelherbergen passiert haben, geht der Weg in einen schmalen Waldweg über. Der Weg ist leicht wellig, aber einfach zu laufen, genau richtig, um langsam wieder in Bewegung zu kommen.

Nach etwa einem Kilometer erreichen wir eine kleine Ortschaft, die wir durchqueren. Am Ortsausgang gabelt sich der Weg, ein Radweg führt an der Straße entlang, ein schmaler Trail führt einen Hang aufwärts. Die Intuition sagt rechts, laut Navi bin ich eher bei Links. Letztlich überzeuge ich meine Gefährten das wir unten bleiben, was sich als falsch herausstellt. Nach knapp 500 Meter kehren wir um und biegen auf den richtigen Pfad ab. Dieser Umweg geht auf meine Kappe.
Der richtige Pfad führt zunächst steil bergan, an einigen Felsen vorbei, dann wieder bergab und stößt, kurz vor der nächsten Ortschaft, wieder auf den Radweg. Diskussion und Irrweg haben viel Zeit gekostet, aber immerhin sind wir der Originalroute gefolgt.
Wir durchqueren das Dörfchen, vorbei an Fachwerkhäusern, bis wir auf einen schmalen Singletrail stoßen.

Der Pfad führ beständig auf und ab und lotzt uns an einer weiteren Ortschaft vorbei. Ich empfinde den Pfad als anstrengend und den Anderen scheint es genauso zu ergehen. Immer wieder geht es steil bergab, dann ebenso genauso steil wieder bergan. Wurzeln, Steine und Äste verleiten uns zum Stolpern.

Wir kommen nur langsam voran, wir marschieren deutlich mehr, als das wir laufen. Besonders Thomas hat auf diesem Abschnitt zu kämpfen, aber auch mir geht es nicht viel besser. Über mehrere, enge, Serpentinen geht es steil hinab. Ich suche mir halt mit den Stöcken, komme aber immer wieder ins Rutschen. Mehr als einmal greife ich beherzt einen Ast oder Baumstamm, um Stürze zu vermeiden. Ausgeruhter würde dieser Abschnitt bestimmt spaß machen, nach über elf Stunden auf den Beinen lässt die Konzentration jedoch nach.
Wir durchqueren einen schmalen Bachlauf, dahinter beginnt einer der steilsten Abschnitte, die wir bis jetzt hatten. Mein Puls ist sofort auf Anschlag und der Schweiß rinnt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit endet der Trail und wir erreichen einen breiteren Waldweg. Noch immer geht es bergan, aber nicht mehr so steil und auch nicht mehr so kraftraubend. Für einige Minuten lassen wir den Wald hinter uns, laufen über offenes Gelände, zunächst ein Stück bergab, bald wieder hinauf. Rechts unter uns ist ein Stausee zu sehen.

Wir erreichen eine Straße und laufen auf einer Rampe hinab zur Staumauer. Schon von oben können wir zwei bekannte Gestalten sehen – unsere „Nordmänner“. Die Begrüßung fällt schon beinahe herzlich aus, gemeinsam überqueren wir die Staumauer, passieren einige Häuser und biegen wieder auf einen breiten, einfach zu laufenden Waldweg ein.
Während wir den Weg entlangtraben prüfe ich mein Navi. Wir werden die meiste Zeit dem Fluss folgen, es sind aber noch entmutigend viele Kehren bis zum nächsten Versorgungspunkt. Was habe ich meiner Frau gesagt, wann wir dort ankommen? 18:30 oder 19:00 Uhr? Ich bin mir nicht mehr sicher, es ist bereits 18 Uhr und noch liegen fast neun Kilometer bis dorthin vor uns. Inzwischen ist die Dämmerung über uns hereingebrochen, die Düsternis um uns herum geht aber nicht nur von der Uhrzeit aus, die Wolken haben sich weiter zugezogen und es ist merklich frischer geworden.
Drei einfache Kilometer laufen wir beständig auf einem breiten Feldweg, immer in Sichtweiter zur Bode, Ideal, um Tempo zu machen. Ich fühle mich inzwischen wieder kräftiger, mein Tief, vom Anfang des Abschnitts, habe ich überwunden.
Auf der gegenüberliegenden Seite taucht eine Ortschaft und vor uns ein „Durchgang Verboten“ Schild auf. Der Abschnitt wurde in der Streckenbesprechung erwähnt, der Weg sollte problemlos passierbar sein, es ist uns freigestellt, ob wir das Hindernis umlaufen oder das Schild ignorieren. Wir ignorieren und bleiben auf dem Weg, völlig zurecht, das größte Hindernis was uns, auf dem sicherlich drei Meter breiten Weg begegnet, ist ein Tannenzapfen.
Nachdem die Ortschaft hinter uns liegt, legen wir eine Pause ein. Nicht die Erste, auf dem Abschnitt, auf die ich hätte verzichten können. In mir reift der Anschluss, die Gruppe am nächsten Versorgungspunkt zu verlassen. So gut wie es bislang geklappt hat, meine Wunschzeit ist deutlich niedriger als die meiner Mitstreiter. Entweder bremse ich mich aus oder ich gefährde ihr Ziel in dem ich sie zu, zu hohem Tempo motiviere. Oder ich laufe jetzt zu schnell und verspiele damit mein Finish. Solange ich aber eine Chance sehe, mein Ziel zu erreichen, werde ich daran festhalten.

Wir verlassen den Waldweg und biegen in eine Straße ein. Es geht vorbei an einigen Wohnhäusern, dabei müssen wir mehrere kurze, aber steile, Rampen überwinden. Nachdem wir die Ortschaft durchquert haben, biegen wir wieder auf einen Waldweg ein. Unsere Gruppe hat sich auseinandergezogen, Sebastian ist, zum Telefonieren, zurückgefallen, die Nordmänner sind ein gutes Stück vor mir und Thomas. Ich warte bis wir wieder zu dritt sind und erkläre dann, dass ich am nächsten VP direkt mit Frau und Hunden weiterziehe. Nach fast 80 gemeinsam gelaufenen Kilometern fällt mir das nicht leicht.
Gemeinsam laufen wir die letzten zwei Kilometer bis zum Versorgungspunkt, ein großes Gasthaus mit Hotel, direkt an der Bode. Dieser Versorgungspunkt wird sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg angesteuert. Letztes Jahr habe ich hier einige Zeit zusammen mit Michael verbracht. Gegen Mitternacht bin ich damals weitergezogen, um den ankommenden Läufern entgegenzulaufen. Ich bin froh, diesen Abschnitt überstanden zu haben, zurückblickend war dies der zäheste bislang.
Als wir heute das Gasthaus betreten herrscht deutlich mehr Trubel als letztes Jahr, etwa zehn Läufer sind hier und auch meine Frau samt den Hunden. Ich trinke und esse etwas, dann schlüpfe ich in den Zuggurt für die Hunde. Um mich gegen die aufziehende Kälte zu wappnen, ziehe ich, des Weiteren, eine Laufweste und Ärmlinge über. Auch die Stirnlampe setze ich bereits auf, noch brauche ich sie nicht, aber spätestens in einer halben Stunde wird es dunkel sein. Alles im allen dauert das deutlich länger als gedacht. Als ich soweit bin, verabschiede ich mich von Thomas und Sebastian, ich bin sicher, die Zwei noch in Thale zu sehen. Vielleicht überholen sie uns auch auf der Strecke. Micha beschreibt den kommenden Abschnitt als „Verblockt“. Der Weg führt durch eine Schlucht, ich rechne mit einigen Felsen und ich gehe davon aus, dass wir einen großen Teil der Strecke marschieren werden.
Wir verlassen das Hotel. Die Hunde sind aufgeregt und ziehen an, sich endlich bewegen zu dürfen, wird ihnen guttun. Das erste Stück laufen wir an der Landstraße entlang, mit den Hunden nicht ganz ungefährlich. Ich bin daher froh, als wir die Ortschaft erreichen und zumindest auf Fußwege ausweichen können. Wir durchlaufen die Örtchen, überqueren eine Brücke und biegen in einen schmalen Weg ein. Die Schlucht liegt nun vor uns.
Wir bleiben dicht am Fluss, der Weg ist wellig, hier und da liegen Felsen auf dem Weg, die sich jedoch mühelos umlaufen lassen. Amak und Tuaq haben sich inzwischen etwas beruhigt und wir kommen gut voran. Während wir Strecke machen, stelle ich meine Kamera neu ein. Es ist inzwischen ziemlich düster, ein paar Fotos, mit den Hunden, möchte ich dennoch sammeln.

Je weiter wir kommen umso rauer wird der Weg. Wir übersteigen Felsbrocken und Baumstämme, die Hunde an allen Hindernissen vorbei zu lotsen ist nicht immer einfach. Wir gewinnen langsam an Höhe, zu unserer rechten geht es steil bergauf, zu unserer linken steil bergab, unter uns rauscht der Fluss. Unser Pfad wir immer schmaler, ist aber, wenn er dicht am Abgrund verläuft, stets durch ein Geländer gesichert. Abschnitte die wir laufen können werden immer seltener. Während wir marschieren, bricht die Nacht über uns herein, wir schalten daher unsere Stirnlampen ein.

Bislang hatten wir Glück mit dem Wetter, doch das ändert sich jetzt. Mit der Nacht kommt der Regen, zuerst nur ein paar einzelne Tropfen. Ich überlege noch, ob es sich lohnt, die Regenkleidung anzulegen – mit den ziehenden Hunden, in der engen Schlucht, ist die Situation ausgesprochen ungünstig dafür. Etwa eine Minute später hat sich die Überlegung erledigt, der Himmel öffnet seine Schleusen und binnen Augenblicken sind wir durchnässt bis auf die Haut.
Durch den Regen wird der Untergrund rutschig, trommelnder Regen, das Rauschen des Flusses, ziehende Hunde: Es erfordert meine volle Konzentration sicher dem Weg zu folgen. Dieser führt weiter bergan, wir marschieren Treppen hinauf und arbeiten uns an Felsbrocken vorbei. An Laufen ist nicht zu denken. Auch von der, sicherlich, beeindruckenden Landschaft bekomme ich nicht viel mit. Die Sicht ist eingeschränkt und mein Blick ohnehin auf den Boden vor mir geheftet um einen sicheren Tritt zu finden. Immerhin bin ich wieder hellwach.
Nach einiger Zeit erreichen wir enge Serpentinen die hinab führen, der schwierigste Abschnitt mit den Hunden, die würden am liebsten abkürzen und den direkten Weg nehmen. Vorsichtig arbeiten wir uns Schritt für Schritt nach unten. Unten angekommen weitet sich der Weg etwas und es wird einfacher. Wir überqueren eine Brücke und marschieren nun an der Nordseite der Bode entlang, noch immer tief in der Schlucht.
Ich erwarte das Ende der Schlucht, dort muss eine Brücke sein, die direkt zur Jugendherberge führt. Das ist der Weg für meine Frau, ich muss noch die Präsidentenrunde laufen. Diese führt zum Startpunkt des Hexenstiegs, wenn wir den Punkt erreichen, haben wir den Hexenstieg vollständig bezwungen.
Bis wir die Brücke erreichen, dauert es aber noch länger als erwartet. Es geht weiter, einem schmalen Pfad am Rand der Schlucht folgend, auf und ab. Dann endlich tauchen die ersten Lichter von Thale vor uns auf. Wir passieren einige Gebäude und erreichen wenig später die ersehnte Brücke.
Amak ist nicht glücklich als Tuaq und meine Frau abbiegen, es erfordert eine Überredungskunst, um ihn zum Weiterlaufen zu bewegen. Als wir endlich wieder auf Kurs sind, laufen wir am Rand einer breiten Straße, auf einem Grünstreifen entlang. Wir passieren die Talstation einer Seilbahn, die zum Hexentanzplatz hinauf fährt, dann müssen wir nachher zu Fuß rauf.
Wir biegen rechts ab und passieren, wenig später, einen Busbahnhof. Erneut geht es rechts ab, nun befinden wir uns in einem großen Stadtpark. Der Weg ist gesäumt mit geschlossenen Buden und abgedeckten Waren. Anscheinend findet hier gerade ein Fest oder ein Markt statt. Im Augenblick interessiert mich allerdings nur den richtigen, der vielen Wege, zu erwischen. Mein Blick pendelt daher zwischen Navi und Park, dabei übersehe ich auch den Startpunkt des Hexenstiegs.
Wir lassen den Park hinter uns und folgen einer Straße, nach einem letzten Anstieg erkenne ich die Jugendherberge vor mir. Als ich die Tür erreiche, wird mir bereits von innen geöffnet. Nach knapp 15 Stunden habe ich, unter Applaus der wenigen Anwesenden, das Ziel des Hexenritts erreicht – Halbzeit!

In Thale

Ich bin froh, im Trockenen zu sein. Nach einer kurzen Begrüßung werde ich in den Nebenraum geführt, zum Trockenlegen. Ich streife die nassen Sachen ab. Die Weste wollte ich, die Nacht über, als wärmende Schicht tragen, das hat sich nun erledigt, in meiner Drop Back finden sich jedoch noch lange Ersatzkleidung. Ich prüfe meine Ausrüstung, die Kamera hat die Dusche zum Glück überstanden, die laminierte Startnummer hat einen brauchbaren Regenschutz abgegeben. Der Rucksack hat zum Glück dichtgehalten, meine gesamte Ersatzkleidung, ist trocken geblieben, ebenso die Akkus für das Navigationsgerät.
Nachdem ich mich abgetrocknet und umgezogen habe, fühle ich mich gleich besser. Ich geh zurück in den Hauptraum und greife am Buffet zu. Es gibt Kartoffeln, Kaffee, Tee, Brot, diverse Kekse und Süßigkeiten. Ich lange bei den Kartoffeln zu, die Energie werde ich noch brauchen. Während ich esse, bringt man mir einen Tee. Micha meint, dass ich noch gut aussehe, das hört man als Läufer häufig, meist in Situationen von denen man weiß, dass es zwar gut gemeint ist, aber nicht der Wahrheit entspricht. Heute ist es anders: Ich fühle mich tatsächlich gut, natürlich merke ich, das ich bereits über 100 Kilometer gelaufen bin, aber ich habe noch Kraft und weder Beine noch Füße schmerzen. Der Rückweg jagt mir daher keine Angst ein.
Während ich esse kommen auch Sebastian und Thomas an, sie waren nicht sehr weit hinter uns, konnten unser mühsames Vorankommen an Hand unserer Stirnlampen nachverfolgen. Ich wünsche den Beiden Glück, es wird das letzte Mal sein, das ich den Zweien begegne. Zu Hause freut es mich zu sehen, das sie es gemeinsam ins Ziel geschafft haben!
Nach dem Essen lege ich Regenhose- und Jacke an, ziehe die wasserdichten Socken an, sortiere meinen Rucksack und tausche die Batterien des Navigationsgeräts. Dann ist es an der Zeit den Rückweg anzutreten.

Hexentanz

Hinweis: Auf Grund von Dunkelheit und Regen habe ich, in der Nacht, auf das Aufnehmen von Fotos verzichtet.

Nach 45 Minuten sind wir bereit zum Aufbruch. Noch immer regnet es, allerdings nicht mehr ganz so stark. Ein Helfer führt uns, von der Herberge, bis zum Beginn des Trails. Der Abschnitt, der von uns liegt, kenne ich, im letzte Jahr bin ich dieses Teilstück, in entgegengesetzter Richtung gelaufen. Dennoch bin ich froh, dass man uns den Einstieg zeigt, bei Dunkelheit und Regen ist der schmale Pfad leicht zu übersehen. Man wünscht uns viel Glück, während der Helfer schnell ins trockene zurück hastet, beginnen wir den Aufstieg.
Etwa 200 Höhenmeter liegen vor uns, zu laufen auf schmalen Trail der sich, in engen Serpentinen, den Hang hinauf windet. Der Aufstieg ist fordernd, der Weg schmal und rutschig. Nicht immer ist der Weg sofort ersichtlich, manche Abbiegungen sind nur schwer zu erkennen und nicht immer steht nur ein Weg zur Verfügung. An Felsen und Bäumen sind jedoch regelmäßig Wegweiser angebracht. Das Navi stellt, hier am Hang, keine große Hilfe da.
Die Hunde, um die ganzen Windungen zu dirigieren, gestaltet sich schwierig. Immerhin ist es sehr unwahrscheinlich das uns bei diesem „Hundewetter“ jemand entgegenkommt, worüber ich dankbar bin.
Der Anstieg nimmt kein Ende, immer wenn ich glaube, das der Weg nun abflacht, wartet die nächste Biegung auf uns. Die Beine brennen und unter meiner Plastikhülle beginnt sich schon der Schweiß zu sammeln. Nach einer gefühlten Ewigkeit erkenne ich eine Aussichtsplattform, gleich muss es geschafft sein. Nach einer letzten Biegung nimmt die Steigung ab, der Weg wird breiter und geht letztlich in eine Straße über.
Wir passieren das „Hazeum“ und einige weitere Häuser, noch immer geht es aufwärts, nun aber deutlich leichter zu marschieren. Wenig später erreichen wir den Hexentanzplatz, eine Art Veranstaltungsplatz, direkt neben dem Tierpark gelegen. Ein großer Parkplatz liegt vor uns, wir gehen jedoch rechts daran vorbei und biegen auf einen schmalen Wanderweg ein. Wir verpassen eine Abzweigung und müssen wieder ein Stück zurück dann sind wir auf dem richtigen Pfad und treten in den angrenzenden Wald ein.
Wir laufen an einem großen Zaun vorbei, dahinter muss der Tierpark liegen. Plötzlich werden unsere Hunde unruhig, sie ziehen zum Gitter und fangen an zu bellen, nur mit Mühe können wir sie weiterbewegen. Dann sehen wir, was Hundenase schon längst bemerkt hat: Ein ganzes Rudel Wölfe tritt gemächlich an den Zaun heran. Die Tiere bleiben ganz ruhig, sie sind es sicher gewohnt, dass Menschen und Hunde an ihrer Haustür vorbeimarschieren. Sie starren uns an, während unsere zwei Aushilfswölfe weiter Randale veranstalten. Nicht nur für mich, als Wolfsliebhaber, ein beeindruckendes Bild. Wir verharren einige Augenblicke, dann setzen wir uns, unter Aufbringung aller Überredungskünste, wieder in Bewegung.
Unser Weg führt beständig auf und ab, die meiste Zeit unter Bäumen, von Zeit zu Zeit über kleinere Lichtungen. Ich hatte diesen Abschnitt ansprechender in Erinnerung. Das könnte aber auch daran liegen, dass wir letztes Jahr eine sternenklare Nacht hatten und ich die Strecke komplett ausgeruht abgelaufen bin.
Wir laufen die ebenen Abschnitte und marschieren die Anstiege, die Hunde fordern weitere Pausen ein, um an großen Pfützen zu saufen. Ich fühle mich getrieben ohne recht zu wissen warum. Ich liege sehr gut in der Zeit, das aktuelle Tempo ist definitiv ausreichend, trotzdem bin ich unruhig und darauf bedacht alle Verzögerungen so gering wie möglich zu halten.
Wir stoßen auf viele Abzweigungen, nicht immer bin ich mir gänzlich sicher, welches die Richtige ist. Auf der Karte des Navis sind nicht alle vorhanden Wege eingezeichnet. Dennoch kommen wir ohne Irrwege voran, bis wir auf einen weiteren Aussichtspunkt stoßen. Unter uns sind die Lichter von Treseburg zu erkennen, bis zum Hotel Bodeblick ist es nun nicht mehr weit. Ich erinnere mich an einen steilen Trail, der von hier aus runter in die Ortschaft führen muss.
Der Abstieg ist anstrengend, die Wege sind durchweicht und rutschig, wir nehmen die Hunde nach hinten, damit sie uns nicht den Hang hinabziehen. Inzwischen ist der Regen verebt, es fallen nur noch einzelne Tropfen. Ich schwitze in der Regenkleidung, an einer Bank halte ich daher kurzentschlossen und ziehe mich um, während meine Frau weiter vorausgeht.
Ohne die zusätzliche Schicht ist es kühl, aber auszuhalten, für’s erste bleibe ich bei kurz/kurz, für den weiteren Verlauf der Nacht habe ich aber auch noch ein langärmliges Oberteil dabei.
Fertig umgezogen folge ich meiner Frau, der Trail wird einfacher zu laufen, ich lass Amak wieder nach vorne und wir kommen zügig voran. Wenig später treffe ich meine Frau am Ortsrand wieder. Wir laufen an dunklen Häusern vorbei und überqueren eine Brücke, dann biegen wir links ab, durchqueren eine Gasse und folgen dem Rand der Straße bis der Parkplatz des Hotels vor uns auftaucht.
Den Versorgungspunkt werde ich nicht noch einmal betreten, im Auto finde ich alles, was ich brauche: letzte Brötchen und eine Cola für die Nacht. Ich esse und fülle noch einmal meine Softflask auf, dann verabschiede ich mich von meiner Frau und den Hunden. Sie hat jetzt noch eine lange Fahrt zum Zeltplatz vor sich, vor mir liegen noch gut 100 Kilometer Hexenstieg. Inzwischen ist es etwa 23:30. Mein nächstes Zwischenziel ist Hasselfelde, in der Stadt gibt es einen unbemannten Wasserpunkt. Bis dahin sind es gut 15,5 Kilometer.

Ich überquere den Fluss und lass Hotel und Versorgungspunkt links liegen. Ich werden zunächst einige Kilometer auf bekannter Strecke zurücklegen. Langsam trabe ich an der Bode entlang. Auf der Strecke kommen mir einzelne Läufer entgegen, jemanden um diese Uhrzeit zu begegnen, überrascht mich, fast hätte ich vergessen, dass ich mich auf einem Wettkampf befinde. Wir grüßen uns, einem Läufer kann ich Hoffnung machen, dass der ersehnte Versorgungspunkt nur noch einen Kilometer entfernt ist.
Ich bin ziemlich langsam unterwegs, den Teil der Strecke kenne ich schon, es ist dunkel, ich bin nun wieder alleine. Müdigkeit macht sich in mir breit, keine Erschöpfung, viel eher die Auswirkungen von fehlendem Schlaf in der letzten Nacht. Normalerweise laufe ich gerne nachts, komme gut mit der Dunkelheit und Einsamkeit zurecht, diese Nacht wird zäh, da bin ich mir jetzt schon sicher.
Zum zweiten Mal passiere ich ein paar Häuser und setze mich über das „Durchfahrt verboten“ Schild hinweg. Plötzlich piepst die Uhr: Streckenabweichung. War da eine Abzweigung? Mir ist keine aufgefallen. Ich zücke das Navigationsgerät und bin maximal verwirrt: Eine dicke dunkelrote Linie zeigt meinen Hinweg an, eine blassrosa Linie die Strecke die ich laufen, eine dünnere rote Linie die aktuelle Tour. Dummerweise gibt es rot dann auch noch als Farbe auf der Karte. Das sieht alles gleich aus. Auf den ersten Blick finde ich die Strecke nicht, bin ich jetzt die letzte halbe Stunde falsch gelaufen? Sofort steigt Panik auf, immerhin bin ich jetzt wieder wach. Nein, das kann nicht sein, die Uhr hat sich erst jetzt beschwert, die Abzweigung muss in der Nähe sein. Während ich langsam zurückgehe, suche ich die Farbeinstellungen und gebe dem aktuellen Track eine neue Farbe. Jetzt erkenne ich zumindest den Weg, den ich laufen muss, allerdings überlagert die dickere Linie des letzten Tracks noch immer die Streckenmarkierung.
Wie man das ausschaltet, muss ich später herausfinden, aktuell genügt es mir, die Abzweigung zu sehen. Etwa 100 Meter muss ich zurück, dann entdecke ich einen schmalen Trail, der den Hang hinaufführt.
Mit Hilfe der Stöcke arbeite ich mich den Hang hinauf. Nach kurzer Zeit bleiben die Bäume zurück. Sträucher und Heidekraut umgeben mich soweit ich blicken kann, das ist allerdings nicht sehr weit, dicke Nebelschwaden wabern um mich, das Licht meiner Lampe wird nach wenigen Metern verschluckt.
Meine Welt schrumpft zu einer Blase zusammen, vor mir sehe ich fünf oder sechs Meter Pfad, rechts und links, kann ich vielleicht noch ein oder zwei Meter der Umgebung erahnen, dahinter Dunkelheit oder Weiß. Der Pfad führt weiter bergan, wird schmaler und schwieriger zu gehen. Von Zeit zu Zeit sehe ich Baumwipfel aus dem Nebel herausragen, sie vermitteln das Gefühl von großer Höhe. In meiner Fantasie befinde ich mich auf einem schmalen, felsigen, Grat, der beidseitig in bodenlose Tiefe abfällt. Ich habe Höhenangst und bin von der Vorstellung wenig angetan, vielleicht ist es besser, dass der Nebel die Wahrheit verbirgt.
Minute um Minute geht es weiter bergan, ich marschiere so schnell, wie es der Untergrund zulässt. Nach einer gefühlten Ewigkeit verlasse ich den Grat. Vor mir sind Bäume, zu beiden Seiten des Weges. Ich kraxel einen Anstieg hinauf, an ein paar Bänken vorbei, dann geht es über einen ruppigen Trail ein Stück bergab bis ich auf einen breiten Waldweg stoße.
Während ich weiter trabe, verebbt das Adrenalin des letzten Abschnitts. Schlagartig kehrt die Müdigkeit zurück, lässt mir fast die Augen im Laufen zufallen. Viele Erinnerungen an den folgenden Abschnitt habe ich daher nicht mehr.
Ich laufe, die meiste Zeit, auf breiten Waldwegen. Immer mal wieder gibt es kurze An- oder Abstiege aber die meiste Zeit über geht es weitestgehend eben dahin. Wald und offene Abschnitte wechseln sich häufig ab, wahrscheinlich sind da Felder, sehen kann ich sie aber nicht, der Nebel ist, außerhalb der Waldabschnitte noch immer sehr dicht, wirklich interessieren tut es mich im Augenblick auch nicht. Ich passiere einige Häuser, laufe ein Stück auf befestigten Wegen, dann biege ich wieder in den Wald ein.
Die Navigation vollzieht sich weitestgehend automatisch, an ein oder zwei Stellen bin ich mir unsicher, Karte und GPS Track decken sich nicht exakt, dennoch finde ich meinen Weg ohne größere Umwege. Die Anstiege marschiere ich, auch sonst ist mein Tempo gering, öfters bleibe ich zur Navigation stehen oder brauche lange, bis ich wieder antrabe. Die Müdigkeit schleift mich, zweifelsfreie meine bislang schwierigste Phase.
Ich habe längst jedes Zeitgefühl verloren, als ich Häuser zwischen dem Nebel ausmachen kann. Offensichtlich nähere ich mich Hasselfelde. Mein nächstes Zwischenziel vor Augen zu haben hebt mich ein Stück aus meiner Lethargie. Ich biege links ab, eine Rampe hinauf und laufe dann rechts am Rand eines Feldes entlang. Immer deutlicher schälen sich die Häuser aus Dunkelheit und Nebel. Wenig später passiere ich die ersten Bauwerke. Ich folge kurz einer Straße, biege dann rechts ab und laufe am Rand eines Stadtparks entlang.
Ich durchquere das Gelände, die Treppe, die zur Straße hinaufführt, ist, warum auch immer, gesperrt, aber der Hang lässt sich problemlos hochlaufen. Ich laufe durch verlassene Straßen, weder Fußgänger noch Autos begegnen mir, außer einigen Laternen und Ampeln ist weit und breit kein Licht zu sehen. Ich passiere eine Kirche und laufe am Marktplatz entlang. Ich nutze die vielen angebotenen Mülleimer um mich von angehäuften Ballast zu befreien: leere Gel- und Kekstütchen die inzwischen fast die Hälfte meines Gürtels füllen.
Für einige Zeit trabe ich weiter durch das Städtchen, vorbei an Geschäften und Wohnhäusern, bis ich eine große Straße erreiche. Auf der gegenüberliegenden Seite kann ich eine Tankstelle und einen Supermarkt ausmachen, hier muss irgendwo der Wasserpunkt sein. Ich brauche ein paar Augenblicke bis ich Bank, Tisch und einige Kanister ausmachen kann.
Viel Wasser verbraucht habe ich nicht, meine Trinkblase habe ich seit dem Start in Osterode noch überhaupt nicht angerührt, bislang bin ich mit der Softflask ausgekommen.
Bevor ich es mir bequem mache, krame ich meine Regenjacke aus dem Rucksack. Es ist kühl geworden, ich beabsichtige, ein paar Minuten zu verweilen, und möchte nicht auskühlen. Danach gönne ich mir direkt eine halbe Flasche Iso und fülle danach meine Flask wieder auf, dann krame ich noch ein paar Kekse aus meinem Vorrat hervor.
Gut 25 Kilometer habe ich bislang bewältigt und dafür fast 4,5 Stunden benötigt, das ist zwar ziemlich langsam, noch bin ich aber auf Kurs. Allerdings kommen die schwierigen Abschnitte erst noch. Wenn ich mein Ziel erreichen will, darf ich nicht trödeln. Mit der Überlegung schultere ich meinen Rucksack, essen kann man auch im Gehen.

Nächste Station ist Mandelholz, ca. 19 Kilometer sind es bis dorthin. Ich laufe ein Stück der Straße entlang, biege ab und befinde mich zwischen zwei Feldern. Noch einmal passiere ich einige Gebäude, dann geht es eine Rampe hinauf und ich steuer wieder auf den Wald zu. Erneut setzt mir die Müdigkeit zu, es kostet mich alle Willenskraft, die Augen offen zu behalten. So kann es nicht weitergehen, aber was tun? Ich habe einen Notfallschlafsack dabei, habe mit Michael sogar das richtige Übernachten auf Bänken während unserer Tour durch den Steigerwald geübt. Allerdings hatte ich mir vorgenommen, wenn überhaupt am Tag zu schlafen, dann wenn die Gefahr der Unterkühlung geringer ist. Die kühle der Nacht wollte ich nutzen, um Strecke zu machen, das ist normalerweise meine stärkste Zeit, nur heute nicht, nicht nachdem ich die letzte Nacht kaum ein Auge zu bekommen habe. Zweite Alternative: Kreislauf anheizen. Obwohl es bergauf geht, trabe ich an, setze die Kopfhörer auf und schalte Musik an, lauter als sonst. Das hilft, ich bin nicht schlagartig wach, aber es fällt mir wieder leichter, die Augen offen zu halten.
Es geht beständig bergan, am Waldrand entlang. Ich laufe langsam, trotzdem ist es anstrengend, es wäre sinnvoller, zu marschieren, aber ich möchte die gerade gewonnene Energie so lange wie möglich aufrecht halten.
Ich trete in den Wald ein, einem Forstweg folgend, der breit genug ist, um bequem zwei Autos nebeneinader Platz zu bieten. In regelmäßigen Abständen sind große Holzstapel auf beiden Seiten des Weges aufgeschichtet, von Zeit zu Zeit sehe ich Hochsitze und Bänke am Wegesrand. Ansonsten bietet der Weg wenig optische Abwechslung. An- und Abstiege präsentieren sich in Form von langgezogenen Rampen, bald marschiere ich die Anstiege wieder, das ist vernünftig so, ich brauche noch Kraft für die kommenden Berge. Nach jeder Rampe mache ich mir bewusst „Du kannst deine Zeit erreichen, du darfst nur nicht trödeln“, immer wieder geht mir diese Botschaft in den unterschiedlichsten Formen durch den Kopf, das wirkt, ich laufe wieder deutlich mehr als in den letzten Stunden.
Nach einer längern Abwärtspassage schält sich ein Stausee, zu meiner linken, aus der Dunkelheit, wenig später passiere ich die Staumauer. Nach dieser kurzen Abwechslung empfängt mich auf der gegenüberliegenden Seite die gleiche optische Eintönigkeit. Ein langgezogener Anstieg beginnt, den ich wieder vorrangig im Marschschritt verbringe. Zur Müdigkeit hat sich inzwischen Hunger hinzugesellt, zumindest dagegen kann ich im Gehen etwas tun. Nach einer gefühlten Ewigkeit endet der Anstieg und mein Weg führt wieder vorrangig eben durch den Wald. Einige Kilometer trabe ich so dahin bis sich der Wald, zu meiner linken Seite, lichtet. Unter mir kann ich eine Straße ausmachen und vor mir tauchen einige Häuser auf, wenig später betrete ich die Ortschaft.
Die Gegend kommt mir bekannt vor, hier bin ich auf dem Hinweg durchgekommen. Es handelt sich um Königshütte, das Örtchen mit dem Wasserfall, bis mir das klar wird, dauert es jedoch noch ein paar Minuten. Vorher mache ich eine Gestalt aus die, ein Stück voraus, gerade rechts abbiegt. Es dauert ein paar Augenblicke bis mir klar wird, das es sich um einen Läufer handelt, das ich mich im Wettkampf befinde und nicht alleine durch den Harz streife, habe ich mal wieder komplett verdrängt. Das ich jemanden einhole überrascht mich, ich hatte die letzten Kilometer nicht das Gefühl sonderlich schnell unterwegs zu sein.
Ich hole auf, Grüße und will weiterziehen, mir ist nicht recht nach plaudern, ich fühle mich schwach und müde. Doch eh ich mich absetzen kann, raunt er mit zu „Kann ich mich anhängen, mein Navi hat Probleme.“ Meine Begeisterung hält sich in Grenzen, aber ich kann ihn ja auch nicht hier stehen lassen, also ziehen wir einstweilen zu zweit weiter. Wir durchqueren den Ort, kommen am Wasserfall vorbei und biegen in einen Waldweg ein. Bislang noch auf dem gleichen Weg den wir, vor einer gefühlten Ewigkeit, hergekommen sind. Unterwegs erzählt mit mein neuer Gefährte, das er seine Batterien im Wald wechseln wollte, dabei sind sie ihm in einen Holzstapel gefallen, klarer Fall von dumm gelaufen.
Im Wald biegen wir nach kurzer Zeit links ab und verlassen somit den bekannten Weg. An der nächsten Kreuzung bin ich mir unsicher, entweder links ab oder geradeaus weiter, ich kann die Wege nur schwer zuordnen. Mein Mitläufer schaltet sein Navi wieder ein, anscheinend ist für abschnittsweise Nutzung noch genügend Batterie vorhanden. Nach einer kurzen Diskussion versuchen wir es erst links, was sich als falsch erweist. Ich bin genervt, sich zu verlaufen ist in Ordnung, aber für Diskussionen habe ich, in meiner aktuellen Gefühlslage, keine Nerven. Wenn ich mir nicht sicher bin, laufe ich solange in einen Weg hinein, bis klar ist, ob es stimmt oder nicht.
Auf dem richtigen Weg geht es bergan, ich bleib beim Marschieren, er läuft und gewinnt rasch an Vorsprung. Ist mir recht, ich schalte meine Musik wieder ein, das hilft mir wach zu bleiben. Zwei Kilometer geht es so dahin, irgendwann endet der Anstieg und auch ich trabe wieder an. Wir biegen links in einen schmaleren Weg ein, hohes Gras und Wurzeln geben den ersten Anflug von Trail seit Stunden. Inzwischen habe ich wieder aufgeholt und wir laufen zu zweit weiter. Immerhin motiviert dieses einstweilige Zweckbündnis die Geschwindigkeit hoch zu halten.
Schweigend traben wir voran, bis meine Uhr piepst – Streckenabweichung. Ich schaue mich um, kann den Weg aber nicht finden, erneut wird Rat beim zweiten Navi gesucht, aber nach wie vor herrscht Unsicherheit. Letztlich laufen wir geradeaus weiter, das ist zwar falsch, aber schon bald stoßen wir auf die Bundesstraße, hier biegen wir rechts ab und folgen ein Stück dem Straßenverlauf. Die Gaststätte und somit der nächste Versorgungspunkt, ist von hier schon zu sehen. Kurz vor dem Gebäude sehen wir einen schmalen Trampelpfad, den hätten wir wohl nehmen sollen, etwa 500 Meter Umweg haben wir uns somit eingehandelt.
Jetzt wo wir aus dem Wald heraus sind, merkt man deutlich, dass der Himmel nicht mehr ganz so finster ist. Nicht mehr lange, dann ist die Nacht überstanden. Wir erreichen den Versorgungspunkt, leider kein Gebäude, sondern nur ein Stand auf einem Parkplatz. Ein Helfer empfängt und umsorgt uns. Warmes Wasser und Kaffee steht bereit, ich kann gar nicht ausreichend betonen, wie sehr ich mich darüber freue! Man reicht mir eine Decke und ich nehme auf einem der bereitstehenden Stühle Platz. Ich greife bei den bereitstehenden Speisen zu und schlürfe langsam meinen Kaffee. Mein Mitläufer hält es nicht lange aus, er will schon einmal ein Stück vorlaufen. Ich unterhalte mich noch ein wenig mit dem Helfer. Kaffee, Essen, Zuspruch und langsam weichende Finsternis, das alles baut auf. Als ich mich bedanke und auf den Weg mache fühle ich mich deutlich besser.
Ich überquere die Straße, laufe über den Parkplatz und biege in einen Trail ein. Die ersten Minuten marschiere ich, dann trabe ich langsam an. Ich biege links ab und überquere eine Wiese. Das Morgengrauen hat nun eindeutig eingesetzt, die Stirnlampe brauche ich nicht mehr. Ich biege in einen Waldweg ein, der dicht am Waldrand entlangläuft.
Minute um Minute fühle ich mich besser. Nach einiger Zeit schließe ich wieder auf den „Läufer mit Batterieknappheit“ auf. Als wir gemeinsam den Wald verlassen ist der Morgen endgültig über uns hereingebrochen. Wir erreichen das Örtchen „Elend“, noch vor einer Stunde hätte das ziemlich gut meinen Gemütszustand beschrieben.

Wir laufen ein Stück an einer Straße entlang und sind uns unsicher, wo es weitergeht. Rechts führt ein schmaler Pfad hinab in Richtung Ortschaft, sollen wir da entlang? Ich denke nicht und folge der Straße. Mein Mitläufer verharrt und prüft sein Navi. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite beginnt ein Trail, da scheint es weiter zu gehen. Ich setze über und rufe zurück „Hier geht es weiter“, er reagiert jedoch nicht, ich warte noch ein paar Sekunden dann laufe ich alleine weiter. Für eine weitere Diskussion fehlt mir Zeit und Motivation. Wie ich später erfahre, wird er auch ohne mich, den Weg ins Ziel finden.
Ich befinde mich am Fuße des Wurmbergs, jetzt beginnt der lange Anstieg dieser Strecke, fast 500 Höhenmeter am Stück. Auch wenn der erste Abschnitt noch laufbar wäre, bleibe ich direkt beim Marschieren. Mit Hilfe der Stöcke komme ich zügig voran. Ich passiere einen breiteren Weg und der Anstieg nimmt zu. Der Pfad ist gut markiert, regelmäßig komme ich an Wegzeichen vorbei, während ich über Steine, Wurzeln und herumliegende Äste steige. Der Wald um mich herum wird immer dichter, der Trail windet sich in Schlangenlinie zwischen den Bäumen hindurch. Nach einer viertel Stunde konzentriertem Steigens flacht der Pfad etwas ab. Der Wald wird offener und wenig später erreiche ich eine Lichtung. Vor mir liegt eine breite, gerodete, Schneise, in den tieferen Tälern wabert dicker Nebel, eine fantastische Aussicht.

Nach einigen Minuten habe ich die Bresche durchquert und werde wieder von dichtem Wald umschlossen. Mein Pfad führt auf eine breiten, mit Lochplatten ausgelegten, Weg. Die Steigung nimmt spürbar zu. Ich prüfe mein Navi, ich werde jetzt einige Zeit immer diesen Weg folgen, eine gute Gelegenheit meine Uhr noch einmal aufzuladen. Ich krame das Ladekabel hervor und verstaue die Powerbank in der Brusttasche meines Rucksacks, dann setze ich meine Reise fort.

Die Steigung ist anstrengend, mit Hilfe der Stöcke aber gut zu bewältigen. Nicht zum ersten Mal bin ich über das zurückliegende Marschtraining dankbar, trotz Steigung und schon mehr als 150 Kilometern in den Knochen, liegt meine Pace bei etwa 9 Minuten und noch immer schmerzen weder Beine noch Füße.
Nach einiger Zeit endet die Lochplatte und ich marschiere wieder über Waldboden, zu meiner Linken öffnet sich immer mal wieder der Blick auf einen Turm, auf der Spitze eines Hügels, das scheint mein Ziel zu sein.

Minute um Minute geht es weiter bergan, weder Wegbeschaffenheit noch Aussicht änder sicht: Bäume rechts, Bäume link, breiter Weg vor mir. Etwa zwanzig Minuten steige ich aufwärts, dann schälen sich einige Holzhäuser aus dem Wald. Bin ich schon oben? Nach Gipfel sieht es hier aber nicht aus. Mein Weg führt an den Hütten vorbei, dass Gelände öffnet sich und unvermittelt stehe ich am Fuß einer Skisprungschanze. Das muss der Turm sein, den ich von weiter unten aus gesehen habe.

Meine erste Befürchtung, ich müsste den Auslauf der Schanze hinauflaufen, erweist sich als falsch, mein Weg für rechts daran vorbei, die Freude hält jedoch nicht lange an, denn die Rampe ist kaum weniger steil, wahrscheinlich die steilste die wir bislang erklimmen mussten. Auf losem Schotter arbeite ich mich, in winzigen Schritten, nach oben. Obwohl es hier oben kühl und recht windig ist, läuft der Schweiß in Strömen. Mehrfach halte ich kurz inne um mich auszuruhen. Ich nutze die Gelegenheit, um Fotos der Aussicht aufzunehmen.

Die Rampe beschreibt einen Bogen und endlich kann ich die Skihütte über mir sehen, gleich habe ich es geschafft. Der letzte Abschnitt kostet noch einmal alle Kräfte, dann wird es endlich flacher und keuchend komme ich vor der Hütte zum Stehen.

Ein strammer Wind weht und es ist kalt, obwohl die Beine noch schwer wie Blei sind trabe ich an, ich möchte möglichst schnell den Abstieg beginnen. Der Weg führt ein Stück den Bergkamm entlang. Ich laufe an einem kleinen See vorbei und steuer auf einen Wald zu.

Ich folge einer asphaltierten Straße und der Abstieg beginnt. Nun wieder zwischen Bäumen laufend, schwindet die Kälte rasch und ich fühle mich gleich ein Stück besser. Die Straße führt in mehreren Serpentinen hinab, regelmäßig biegen Waldwege oder kleine Trails ab, jede Abzweigung erzeugt bei mir Unsicherheit. Soll ich wirklich auf der Straße bleiben? Das ist untypisch und ich möchte vermeiden, den Wurmberg ein zweites Mal erklimmen zu müssen, weil ich die falsche Abzweigung genommen habe.

Die Straße erweist sich als richtig. Fast drei Kilometer schnelles, einfaches, Laufen sind mir vergönnt bis ich von der Straße abbiege. Schlagartig fühle ich mich ausgelaugt und hungrig, zum Glück sollte es, bis zum nächsten Versorgungspunkt, nicht mehr weit sein. Gemächlich trabe ich einen Waldweg entlang, bis ich eine Wegespinne erreiche. Insgesamt fünf Wege stehen zur Auswahl, ich schwanke zwischen zweien, entscheide mich für den linken davon. Ich laufe eine steile Rampe hinab, einem kleinen Bachlauf folgenden.

Nach ein paar Minuten zücke ich das Navi, ein intuitiver Kontrollblick, wie ich ihn in den letzten 25 Stunden, solange bin ich inzwischen unterwegs, regelmäßig unternommen habe. Doch diesmal bin ich falsch! Ich bleibe stehen und prüfe noch einmal die Anzeige, es war die falsche Abzweigung. Fluchend kehre ich um und marschiere den Pfad wieder hinauf. Wenigstens 600 Meter Umweg und 40 Höhenmeter kostet mich diese Unachtsamkeit, mein bislang schlimmster Verlaufer.
Der richtige Weg erweist sich als weitaus weniger spektakulär: ein breiter, nahezu ebener, Waldweg. Da hatte mein kleiner Abstecher zumindest ästhetisch mehr zu bieten. Eine Weile geht es eben dahin, dann beginnt ein Anstieg, an dessen Ende kann ich eine Frau sehen, die mir zuwinkt, der nächste VP liegt vor mir!

Liege und Stühle stehen bereit, ich entscheide mich für den Klappstuhl. Man reicht mir eine Decke, bringt mir Essen und Getränke an den Platz. Ich greife zu, Muffins, Gummibärchen, Brot, Reiskekse, alles was etwas Masse hat. Auf die Frage wie es mir geht, antworte ich erneut mit „Mir ging es schon nach deutlich weniger Kilometern deutlich beschissener“, das könnte das Motto dieses Laufes werden.
Meine Softflask wird wieder aufgefüllt, das Wasser in meiner Trinkblase ist nach wie vor unangetastet. Vor meinen Aufbruch packt man mir noch ein Care-Paket für unterwegs. Eine fürstliche Betreuung – vielen Dank dafür!
Das Aufstehen und Anlaufen fällt schwer, wird aber nach wenigen Schritten besser. Bis zum nächsten Versorgungspunkt sind es knapp 22 Kilometer. Das ist dann auch schon der Vorletzte, dort werde ich meine Frau und die Hunde treffen.
Ich überquere die Bundesstraße und biege auf einen Waldweg ein. Es geht bergab, angenehm zu laufen und gut um etwas Tempo zu machen. Zwischen den angrenzenden Bäumen hält sich noch etwas Nebel, in der Sonne wirken die leuchtenden Schwaden mystisch, ein faszinierender Anblick. Ich passiere einige Häuser, eine Joggerin kommt mir entgegen, Grüßen und weiter.

Nach einigen Kilometern endet die Abwärtspassage, ich biege auf einen Trail ein und laufe durch dichten Wald. Hübsch anzusehen und eine willkommene Abwechslung nach den vielen breiten Waldwegen, die ich zuletzt hatte.
Ich erreiche einen kleinen See und überquere eine hölzerne Brücke. Der Pfad wird rauer, Auf- und Abwärtspassagen wechseln sich ab. Nebelschwaden hängen über den Pfad und mehr als einmal muss sich innehalten, um zu prüfen, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin. Langsam aber sicher meldet sich die Müdigkeit zurück, ich merke das vor allem an nachlassender Konzentration beim Ablesen des Navis. Mehr als 26 Stunden bin ich inzwischen unterwegs, trotzdem ist es noch erträglich, kein Vergleich zu den letzten Stunden auf dem Goldsteig, wo ich, zu dieser Zeit, meinen Sinnen nicht mehr trauen konnte.

Der Wald, in diesem Abschnitt, wirkt urtümlich. Ich laufe an hohen Bäumen vorbei, der Untergrund ist durchsetzt mit kleinen Bäumchen und Strauchwerk. Der Nebel unterstreicht diesen Eindruck. Schließlich biege ich in einen Trail ein und laufe den Hang hinab, dann öffnet sich vor mir eine weite Lichtung. Ein Wiesenweg führt auf das nächste Waldstück zu.

Ich betrete den Wald und stehe wenig später vor einer Wand. Ich blicke auf das Navi, aber ja, da muss ich rauf. Der Hang ist steil, sehr steil, überwuchert mit Wurzeln, aber das ist nicht das Problem. Eher der Kollosale Baum, der mitten auf dem Weg liegt. Keine Option zum Umlaufen, rechts ist ein Geländer, dahinter ein Abgrund, links ist zu zerfurcht und steil. Es hilft nichts, ich muss drüber, mit inzwischen spürbar müden Beinen, keine Wohltat, aber unterm Strich leichter als befürchtet.

Meine Hoffnung, es könnte sich nur um eine kurze Rampe handeln, erfüllt sich nicht. Der Pfad bleibt steil und „verblockt“, herabgefallene Äste, große Steinbrocken, Wurzeln, jeder Art von Hindernis legt sich mir in den Weg. Ich setze kleine Schritte und nutze die Stöcke um mich, Meter für Meter, nach oben zu arbeiten. Recht genau einen Kilometer geht es so bergan, bis ich einen breiteren Pfad erreiche. Es bleibt steil, aber weit weniger technisch und somit leicht zu marschieren.
Nach einem weiteren Kilometer trete ich aus dem Wald heraus. Weitläufige Wiesen und Felder liegen vor mir. Das erste Stück marschiere ich noch, dann wird es flacher und ich trabe langsam an. Ich fühle mich angegriffen, die letzten zwei Kilometer haben einiges an Kraft gekostet, der Energieschub, der vom letzten Versorgungspunkt ausging, ist schon wieder verraucht.
Vor mir tauchen ein paar Häuser auf, keine echte Ortschaft, nicht mehr als 10 Häuser in Summe. Zwei Jugendliche kommen mir, samt freilaufenden Hund entgegen. Hund sieht mich und läuft auf mich zu. Die Körpersprache des Hundes ist freundlich, ich beuge mich zu ihm hinab, lass ich schnuppern und streichel ihn schließlich. Die Zwei kommen auf mich zu, anscheinend haben sie von dem Lauf gehört, oder heute bereits Läufer gesehen, auf jeden Fall zeigen sie sich interessiert und Fragen mich aus: Wie weit ich schon bin? Wie lange ich schon unterwegs bin? Ob ich schlafen würde? Wie ich den Weg finde? Sie wirken ehrlich interessiert und beeindruckt und ich nehme mir die Zeit, alle Fragen zu beantworten. Das tut gut, zum einen wegen der Pause, zum anderen wirkt die Unterhaltung belebend, vertreibt etwas Müdigkeit. Nach fünf Minuten verabschiede ich mich und man wünscht mir weiterhin viel Glück.
Ich lasse den Weiler zurück und folge einem breiten Waldweg, der zunächst bergab und anschließend beständig leicht bergauf führt. Nach etwa zwei Kilometern passiere ich eine Gaststätte, die sowohl links als auch rechts des Weges Bänke anbietet. Es scheint gerade geöffnet zu werden, kurz überlege ich, hier einzukehren, eine Cola zu trinken oder ein Eis zu essen. Letztlich entscheide ich mich aber dagegen, ich möchte nicht zuviel Zeit verlieren und ich habe alles dabei, was ich brauche.

Ich passiere die Gaststätte und folgen dem breiten Waldweg. Laut Navi werde ich für längere Zeit auf diesen Weg bleiben, Verlaufen somit unwahrscheinlich. Der Weg führt beständig leicht bergan, zu meiner Linken geht es streng bergauf, am Fuß der Felsen verläuft ein Wassergraben, auf der rechten Seite fällt das Gelände ab und geht in dichten Wald über. Mehrfach laufe ich kurz an, entscheide mich dann aber für das Marschieren, die Steigung ist zwar nicht stark, kostet aber dennoch unverhältnismäßig viel Kraft.
Für einige Zeit ist das hübsch anzusehen, nach und nach schwindet jedoch die Begeisterung. Der Weg zieht sich und sieht überall gleich aus. Auf eine lange Gerade folgt eine rechts Kurven, kurz darauf eine Linkskurve, dann wieder eine gelange Gerade. Das wiederholt sich, zweimal, dreimal, viermal.. ich weiß nicht wie oft. Nach einer halben Stunde bin ich es absolut leid, hoffe nach jeder Rechtskurve das sich das Gelände endlich ändert, aber vergebens. Ich habe das Gefühl im Kreis zu laufen oder auf der Stelle zu stehen.

Eine weitere Viertelstunde vergeht, an Landschaft und Weg ändert sich nichts. Ich bin es leid, möchte nicht mehr, aus Frust laufe ich ein Stück, lass es dann aber bleiben, Kräfte sparen.
Nach einer weiteren Viertelstunde sehe ich endlich eine Abzweigung vor mir, ein schmaler Trail, beschwingt endlich dem Hamsterrad zu entkommen, biege ich ein, meine Uhr piepst – Streckenabweichung. Wäre auch zu schön gewesen. Also wieder zurück. Wieder rechts rum, aber nun ändert sich tatsächlich was: Es wird steiler – ist mir egal, Hauptsache was anderes. Nach einer letzten Geraden stehe ich vor der Bundesstraße, ich überquere diese und stehe am Rand eines Sees.
Der Anblick entschädigt für vieles der psychischen Folter der letzten Stunde: tiefblaues Wasser, blauer Himmel, Bäume die sich im Wasser spiegeln. Ganz ähnlich dem Stausee an dem wir, vor einer gefühlten Ewigkeit (oder zwei realen Tagen), bei unserer Erkundung vorbeigelaufen sind.

Für einen Augenblick lauf ich am idyllischen See entlang, überquere eine hölzerne Brücke und biege in einen Trail ein. Schlagartig endet alle Trailromantik, der ganze Weg ist überseht mit knorrigen, wulstigen, Wurzeln. Nirgendwo ist Platz einen Fuß auf ebenen Untergrund abzusetzen. Bei jedem Schritt drücken die Wurzeln unangenehm auf die Fußsohle. Sofort werden Erinnerungen an den Goldsteig wach, hier brannten die Fußsohlen auf den letzten 20-30 Kilometern fürchterlich, ein Pfad wie dieser hätte mich damals mit Sicherheit in die Verzweiflung getrieben.

Nicht immer ist ein eindeutiger Weg zu erkennen, die Richtung ist jedoch klar: immer am See entlang. Die Wurzeln erstrecken sich über das komplette Ufer, ab und zu erleichtern Bohlenstege das Vorankommen, wertvolle Sekunden der Gnade für die Fußsohle. Immerhin tröstet die Aussicht auf den nahen See und die Landschaft um mich herum über die Strapazen hinweg. Nach einem Kilometern Wurzelpfad führt mich ein weiterer Bohlenpfad in ein kleines Nadelwäldchen.

Die Hoffnung auf leichtes Vorankommen erfüllt sich jedoch nicht. Ein schmaler Pfad führt zwischen den Bäumen hindurch, allerdings sind auch hier die Spuren vergangener Stürme unübersehbar. Regelmäßig muss ich über umgestürzte Bäume klettern oder diese Umlaufen und auch Wurzeln gibt es mehr als reichlich. Nach einem weiteren zähen Kilometer weitet sich der Weg, gibt mir etwas Luft mich zu erholen. Ich überquere eine weitere hölzerne Brücke, ein Wegweiser informiert mich nun in den „Märchenwald“ einzubiegen. Märchenwald, der Name sagt mir etwas, während des Briefings ist der Begriff gefallen, mit der düsteren Vorahnung das mir eher ein feuerspeiender Drache als eine Prinzessin begegnen wird, mache ich mich auf den Weg.
Aus Vorahnung wird Gewissheit. Schon die ersten Meter gestalten sich schwierig, Schlamm bedeckt die ganze Breite des Weges. An den Rändern befindet sich dichte Böschung und kein Durchkommen. Es hilft nichts, ich muss da durch. Mit den Stöcken suche ich nach belastbaren Untergrund. Ich glaube, einen gefunden zu haben, und übe Druck mit dem Stock aus um über das Schlammloch zu setzen. In diesem Moment sackt mein Stock fast 50cm in die Plörre, ich verliere das Gleichgewicht und kann mich mit einem verzweifelten Satz gerade noch auf die andere Seite retten.

Der Sumpf, vor mir, zieht sich, soweit das Auge reicht den Wald hinauf. Ich packe die Kamera ein, ich muss mich jetzt auf den Trail konzentrieren. Tritte suchen, Gelände abklären, ab und an sollen hölzerne Balken das Vorankommen erleichtern, allerdings sind diese komplett morsch und durchweicht und genauso rutschig wie der sumpfige Untergrund. Wann immer möglich, versuche ich die Sumpflöcher, an den Rändern zu umlaufen. Da der ganze Pfad in einer Mulde liegt und von starker Vegetation umgeben ist, muss ich aber meist mitten durch. Nach kürzester Zeit läuft mir der Schweiß in Strömen, wie auf Eierschalen tänzel ich durch den Matsch. Mehr als einmal komme ich ins Rutschen, der Umstand das ich noch immer die wasserdichten Socken an den Füßen habe, zahlt sich aus. Ich versuche das Tempo hoch zu halten, nicht weil es mir um die Zeit geht, sondern weil ich diesen „Scheißtrail“ denn als solchen betitel ich leise fluchend diesen Abschnitt bereits, schnellstmöglich hinter mich bringen will.
Der Anstieg nimmt kein Ende und auch das Gelände wird nicht besser, nur steiler. Immerhin finde ich, nach einiger Zeit, ein Rhythmus und komme etwas besser voran. Märchen sind grausam, ein „Happy end“ nicht immer vorgesehen, doch nach etwas mehr als einer halben Stunde, in der ich gerade einmal drei Kilometer ableiste, lass ich den Sumpf hinter mir.
Erschöpft und ausgelaugt stoße ich auf einen Waldweg. Immerhin dürfte der nächste Versorgungspunkt nicht mehr fern sein. Ich erreiche eine Bundesstraße, die Gegend kommt mir bekannt vor aber ich brauche einige Minuten bis ich den Ort wiedererkenne: Ich befinde mich am Torfhaus, hier lag der zweite Versorgungspunkt. Die Erinnerung daran scheint in weiter Ferne zu liegen. Von der Streckenbesprechung, weiß ich noch, dass der Versorgungspunkt auf dem Rückweg woanders liegt, aber ich kann mich nicht erinnern wo genau. Ich folge dem Track und schaue mich aufmerksam um.
Ich erreiche eine Kreuzung und muss warten, bis die Straße frei ist, um diese sicher zu überqueren. Auf der anderen Seite schein ich die Ortschaft schon wieder zu verlassen, ich komme an einem Grundstück vorbei, ein Camper steht darauf, aber niemand zu sehen. Sieht nicht nach einem Versorgungspunkt aus. Unsicher laufe ich weiter, habe ich den Punkt verpasst? Suchend schaue ich mich noch einmal um, dann laufe ich maximal verunsichert weiter.
Eine Minute später erreiche ich einen Parkplatz und atme tief durch, vor einem Camper sitzt meine Frau und einige Helfer. Auch die Hunde sind da. Unter Applaus laufe ich auf den Platz und lass mich auf einen der bereitstehenden Campingstühlen fallen. Man bringt mir alles was ich brauche, Essen, Wasser, auch das angebotene Bier (natürlich alkoholfrei) nehme ich dankend an. Ich erfahre, dass ich mich auf Platz drei befinde. Vor mir liegt eine Läuferin, vor etwa eine Stunde hat sie den Versorgungspunkt verlassen, allerdings spielen ihre Füße nicht mehr mit und sie kann nur noch marschieren. Eine Stunde aufzuholen ist, auf den verbleibenden knapp 25 Kilometern, nicht sehr wahrscheinlich. Wichtiger ist mir, nach wie vor, das Erreichen meiner Wunschzeit, es ist jetzt 11:45, seit fast 30 Stunden bin ich unterwegs, bleiben gut 6 Stunden, das sieht nach wie vor gut aus. Ich lasse mir Zeit, berichte von dem Erlebten, stärke mich ausgiebig, dann raffe ich mich auf und verabschiede mich.
Langsam trabe ich an und laufe den Parkplatz hinab, ich habe das unbestimmte Gefühl etwas vergessen zu haben, komme aber nicht darauf was. Ich habe den Parkplatz bereits verlassen und bin auf einen Waldweg eingebogen als es mir, beim Griff zum Navi auffällt: Die Stöcke fehlen, die lehnen noch oben am Camper. Ich bin noch am überlegen, ob ich zurückgehen sollte, oder von nun an auf die Stöcke verzichten kann, als ein Helfer, auf seinem Mountainbike um die Ecke schießt und mir die Stöcke aushändigt. Ich bedanke mich und setze meinen Weg, nun wieder mit voller Ausrüstung, fort. Der Weg führt eine Weile bergab und kommt mir bekannt vor, hier bin ich auf dem Hinweg bereits durchgekommen. Ich überquere eine Straße, biege ab und befinde mich wieder im „Neuland“. Nach einem kurzen Waldweg biege ich auf einen Trail ein. Vor mir liegt der letzte größere Anstieg der Strecke (zumindest glaube ich das): die Wolfswarte. Ein steiniger Pfad, führt bergan, die Steigung ist überschaubar, allerdings fließt beständig Wasser den Hang hinab. Instinktiv versuche ich, trockene Schritte zu setzen, bis ich verfehle und mein Fuß in einer großen Pfütze versinkt und dennoch trocken bleibt. Erneut erweisen sich die wasserdichten Socken als ausgesprochen nützlich.

Ich lasse alle Vorsicht fahren und stapfe zügig durch das Wasser den Hang hinauf. Die Kühle des Wassers spüre ich, mehr nicht, das ist richtig angenehm, fast schon wie eine Massage. Mit kräftigen Stockeinsatz arbeite ich mich den Hang zur Wolfswarte hinauf. Eine Gruppe Wanderer, die mir weitaus vorsichtiger, entgegenkommt, wirft mir dabei verdutzte Blicke zu. Eine vergnügliche Viertelstunde arbeite ich mich den Hang hinauf, dann erreiche ich ein Plateau, von hier oben hat meine wunderbare Fernsicht. Ich gönne mir ein paar Augenblicke, dann überquere ich die Lichtung und beginne den Abstieg.

Nach einem kurzen, felsigen und steilen Abstieg stoße ich auf einen breiten Waldweg, der vorrangig bergab führt, seit langem wieder ein Abschnitt, den man völlig problemlos laufen kann. Ich genieße das und lass es rollen, dass ich nach inzwischen mehr als 195 Kilometern noch immer Kraft finde, um relativ flott zu laufen (hier etwa 6 Minuten pro Kilometer) fühlt sich gut an.

Zwei einfache Kilometer sind mir vergönnt, dann biege ich in einen Trail ein und alle Leichtigkeit endet. Der nächste „Scheißtrail“ liegt vor mir, übersäht mit kindskopfgroßen Felsbrocken. Erneut versuche ich, wo es geht, am Rand zu laufen, dennoch werde Beine und Füße ordentlich malträtiert. Der Pfad verjüngt sich immer weiter und wird immer steiler. Zu guter letzt arbeite ich mich Schritt für Schritt abwärts. Erneut stoße ich auf einen breiten Waldweg und habe auch dieses Hindernis überstanden, wie viele noch bis zum Ziel?

Der Weg führt vorrangig bergauf, dabei überwinde ich eine der steilsten Rampen die mir bislang, auf dieser Strecke, untergekommen bin. Ich bin sehr froh, dass ich meine Stöcke nicht zurückgelassen habe. Nach einigen Minuten erreiche ich eine Bundesstraße. Sofort kommt mir die Gegend bekannt vor, aber nicht aus diesem Jahr, letztes Jahr hatte ich meinen Versorgungspunkt auf dem Parkplatz dem ich, nachdem ich ein Stück am Straßenrand entlangmarschiert bin, erreiche. Ich erkenne den Einstieg in den angrenzenden Waldweg, erinnere mich an optimistische und an vollständig erschöpfte Läufer, die ich hier betreut habe.

Der Waldweg, dem ich folge, ist breit und einfach zu laufen bzw. zu marschieren, es geht vorrangig bergan. Drei Kilometer geht es so dahin, die Landschaft ändert sich kaum: breiter Weg, hohe Bäume auf beiden Seiten, weiterhin beständig aufwärts.

Ich dachte das kaum noch Höhenmeter vor mir liegen, entsprechend unvorbereitet trifft mich die nächste Rampe. Die ist steil, richtig steil und lässt mich über grobes Geröll und Schotter steigen. Ich komme kräftig ins Schnaufen, halte aber mein strammes Marschtempo bei, ich möchte das Hindernis schnell überwunden wissen. Endlich endet die Rampe, das war es hoffentlich nun wirklich. Wenig später scheint der Waldweg zu enden, einen Moment glaube ich an eine Sackgasse, dann entdecke ich einen schmalen Durchgang zwischen den Bäumen.

Ein Schild weißt mich darauf hin, dass ich mich nun auf dem „Reiterstieg“ befinde, ebenfalls wird mir gutes Schuhwerk ans Herz gelegt – das kann ja heiter werden. Ich muss nicht lange warten, um herauszufinden, wofür ich das Schuhwerk brauche: Der Weg ist, auf der ganzen Breite, überseht mit groben, knubbeligen, Felsen. Jeder Schritt will mit bedacht gesetzt werden, Stolperfallen und Möglichkeiten zum Umknicken gibt es in Überfluss. Von der hübschen Landschaft aus Heidekraut, einzelnen Bäumen und beeindruckender Fernsicht bekomme ich wenig mit, mein Blick ist auf den Boden geheftet.

Die Zeit vergeht nur langsam, trotz meiner Vorsichtig knicke ich mehrfach um, kann mich jedoch immer mit den Stöcken abfangen. Ich fluche leise vor mich hin, gut möglich das dabei das ein oder andere Mal der Begriff „Scheißtrail“ fällt. Etwas mehr als zwei Kilometer eier ich über den Trail, dann weichen die Steine, der Weg wird breiter und ein Turm rückt in mein Sichtfeld. Die Hans-Kühne-Burg, der letzte Versorgungspunkt. Ich brauche nichts mehr, es sind nur noch 12 Kilometer bis ins Ziel und möchte den Versorgungspunkt am liebsten auslassen. Da ich mir nicht ganz sicher bin, ob unsere Anwesenheit hier kontrolliert wird, gehe ich trotzdem hinein.
Im Gastraum treffe ich auf die Zweitplatzierte, ich habe sie tatsächlich noch eingeholt. Ich frage Sie, ob es hier Listen oder Helfer gibt, nachdem das verneint wurde, verlassen wir gemeinsam das Gasthaus. Für ein oder zwei Minuten marschieren wir gemeinsam, beim Einstieg in den nächsten Trail lässt sie mir den Vortritt, sie kann nicht mehr laufen und wird nicht mit mir mithalten können. Sie klingt verbittert, wen wunderts, so kurz vor dem Ziel wird niemand mehr gerne eingeholt. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, wäre dies nicht mein wichtigster Wettkampf im Jahr, wäre ich vielleicht bei ihr geblieben, so frage ich noch ob sie etwas benötigt und trabe an, nachdem auch dieses verneint wurde.

Lange ist der Trail nicht laufbar, der Weg ist aufgeweicht und matschig, dadurch sehr rutschig. Büsche stehen eng auf beiden Seiten des Weges und mir bleibt kaum Platz den Schlammlöchern auszuweichen. Der nächste „Scheißtrail“. Vorrangige Orientierung ist nun abwärts, daran wird sich bis zum Ziel nicht mehr viel ändern.
Schlamm, Felsen, abgebrochene Äste, umgestürzte Bäume, teilweise stark abschüssiges Gelände – für das Finale legt sich mir jede Form von Hindernissen in den Weg. Als wäre das nicht genug, fängt es wieder an zu regnen. Zunächst nur einzelne Tropfen und ich habe die Hoffnung, das ignorieren zu können, aber der Regen nimmt immer weiter zu, schließlich bleibe ich stehen und krame die Regenjacke heraus. Der Abstieg wird, durch den Regen, nicht einfacher oder ungefährlicher, nur mühsam komme ich voran. Irgendwo habe ich gehört, dass der Trail praktisch bis zum Ortsrand führt, das wären noch sechs oder sieben Kilometer von hier, noch mindestens 1,5 Stunden Scheißtrail. Das baut nicht gerade auf.

Der Regen lässt etwas nach und ich bin freudig überrascht als der Trail, nach etwa weiteren zehn Minuten, auf einen breiten Waldweg einmündet. Der letzte Abstieg hat sehr viel Kraft gekostet, ich bin müde und matt, aber es ist jetzt nicht mehr weit, ich trabe an und nehme Fahrt auf. Dabei vernachlässige ich aber die Navigation, verpasse eine Abzweigung, nicht weit, aber den Hang wieder hinauf zu müssen, nervt trotzdem. Von nun an achte ich wieder verstärkt auf den Track.
Der Waldweg führt beständig bergab, ich überquere einen kleinen Platz, laufe einen Hang hinab und marschiere einen kurzen Gegenanstieg hinauf. Die Gegend kommt mir bekannt vor, obwohl sich der Waldweg hier nicht von den letzten Kilometern unterscheidet. Es dauert ein wenig bis ich den Weg zuordnen kann: Hier waren wir am ersten Abend spazieren, ich befinde mich bereits auf Höhe des Zeltplatzes. Zu wissen wo ich mich befinde, beflügelt mich und lässt mich meine Schritte noch einmal schneller setzen.

Wenige Minuten später tauchen die ersten Häuser vor mir auf, ich biege rechts ab, laufe einen schmalen Trail hinab und an einer Schranke vorbei. Dann stehe ich im Wohngebiet. Intuitiv folge ich der Straße, dass ich falsch bin, merke ich erst 200 Meter später, schon wieder verlaufen. Von mir selbst genervt wende ich und laufe zurück, ein steiler Pfad führt hinab auf eine Straße. Der Regen setzt wieder ein, steigert sich von Nieseln in dichten Regen, spielt nun auch keine Rolle mehr, nur noch zwei Kilometer.
Ich laufe durch einen Park, eine Rampe hinauf und am Rand der Hauptstraße entlang. Vor einer gefühlten Ewigkeit ging es hier rechts ab den Berg hinauf.
Eine Ampel zwingt mich zu einer kurzen Pause, am Kreisel biege ich links ab, wenig später steuer ich auf eine Lücke zwischen Häuser und Fluss zu und befinde mich wieder im Park. In der Ferne sehe ich eine Handvoll Leute im Regen stehen. Ich kann nicht anders und beschleunige. Das Ziel laufend zu erreichen war mir beim Goldsteig nicht vergönnt, jetzt, nach mehr als 210 Kilometern noch die Kraft dazu aufbringen zu können, fühlt sich gut an. Kinder kommen mir entgegen, „Du sollst in der Mitte laufen“ rufen Sie mir zu. Dem komme ich gerne nach und biege auf die Wiese ab, flankiert von den Kindern. Die wenigen Zuschauer: Michael, meine Frau, der Erstplatzierte und Helfer applaudieren mir entgegen. Mein Laufabenteuer endet nach 34 Stunden und einer Minute, trotz starken Regens der schönste und bewegendste Zieleinlauf meines bisherigen Läuferlebens.

Im Ziel

Meine Frau und Michael gratulieren mir, umarmen mich, ich kann noch gar nicht realisieren es wirklich geschafft zu haben. Eh ich mich versehe, hängt man mir die Finisher Medaille um den Hals. Michael ist förmlich aus den Häuschen, ich kann das im Moment gar nicht richtig erwidern, bin einfach überfordert und voll mit Eindrücken, Erschöpfung und Emotionen. Wir nehmen noch ein Finisher Foto auf, dann gehen wir in die Gaststätte, um uns vor dem Regen zu schützen.
Ich würde gerne noch den Zieleinlauf der Drittplatzierten miterleben, doch dazu kommt es nicht mehr. Mein Kreislauf meldet sich, nach mehr als 30 Stunden Bewegung und völlig durchnässt kommt mein Körper mit dem plötzlichen Stillstand nicht zurecht. Ich schaffe es noch bis in den Gastraum und order mir einen Tee, wärmen ist jetzt wichtig, bis ich merke, das ich mich hinlegen muss, wenn ich nicht umfallen will.
Der einzige zur Verfügung stehende Ort ist der Fußboden, für viele Erklärungen fehlt mir die Zeit, was für etwas Panik beim Personal sorgt. Sofort werde ich umsorgt. Mir geht es aber nicht schlecht, ich kenne das Gefühl, beim 24 Stunden Lauf in Reichenbach hat es mich, im letzten Jahr, schlimmer ausgeknockt. Meine Frau und Micha organisieren mir ein Handtuch zum unterlegen, sowie trockene Kleidung. Etwas Ruhe, der wärmende Tee und trockene Kleidung hilf mir, langsam weicht Schwindel und Übelkeit. Als es mir gut genug geht brechen wir zum Zeltplatz auf.
Im Zelt angekommen schlafe ich zwei oder drei Stunden, das wirkt wunder, mir geht es deutlich besser. Nach einem ausgiebigen Abendessen am Zeltplatz schlafe ich die Nacht wie ein Stein durch.

Der nächste Morgen

Als ich aufwache, geht es mir erstaunlich gut, natürlich sind die Beine noch schwer, aber ich kann mich absolut beschwerdefrei bewegen, fühle mich kräftig und ausgeruht. Leider hat sich das Wetter nicht gebessert, es regnet noch immer, hat es die ganze Nacht durch. Meine Gedanken sind bei den Läufern, die diese Nacht noch unterwegs waren, für mich waren die Bedingungen alles im allen ziemlich gut. Nach dem Frühstück brechen wir unser Lager ab und machen uns auf den Heimweg.

Fazit

Der Hexenstieg verlief für mich sehr erfolgreich, das harte Training, über den Winter, hat sich ausgezahlt. Meine Traumzeit konnte ich um fast zwei Stunden unterbieten. Als ärgerlich empfand ich meine lange Schwächephase in der Nacht, normalerweise ist das meine Zeit, dieses Problem schreibe ich vorrangig der schlaflosen Nacht vor dem Rennen zu.
Alles Weitere hat dieses Mal gepasst und gut funktioniert. Als besonders hilfreich habe ich das Marschtraining empfunden. Die vielen lange Anstiege, dadurch, kraftsparend und noch immer relativ schnell bewältigen zu können, hatte einen großen Anteil an meiner guten Laufzeit.
Besonderen Dank möchte ich, an dieser Stelle, meiner Frau für die Unterstützung während der langen Vorbereitungs- und Wettkampfzeit aussprechen, sowie Michael für die Unterstützung im Training und Sebastian und Thomas für die vielen gemeinsamen Kilometer auf der Strecke.
An der Organisation des Laufs gibt es nichts zu rütteln, alle notwendigen Informationen waren verfügbar, das Briefing war ausführlich, die Menge an Verpflegungspunkten üppig. Die Strecke ist sehr abwechslungsreich und bietet einige Highlights. Ein Großteil des Weges ist gut laufbar, schwierige Trail Passagen sind zwar selten, kommen aber, besonders am Ende, vor. Man muss kein Trail-Profi sein, um gut durchzukommen, sollte aber etwas Erfahrung mitbringen. Die Verwendung von Trailstöcken empfand ich als sehr hilfreich.
Der Hexenstieg Ultra hat, in dieser Form, dieses Jahr zum letzten Mal stattgefunden. Im nächsten Jahr werden sich einige Dinge ändern: Der Lauf wird im Mai stattfinden, später starten und es wird nur noch zwei Strecken geben: Eine ca. 130 Kilometer lange Laufstrecke sowie eine ca. 90 Kilometer lange Wanderstrecke. Gelaufen wird nur noch in eine Richtung: Von Thale nach Osterode, dabei werden jedoch die Highlights beider Strecken kombiniert: Brocken, Achtermann, Eckertalsperre, Wolfswarte etc., die Strecke wird also zweifelsfrei anspruchsvoll, dafür deutlich kürzer. Besonders den späteren Start begrüße ich, das stellt sicher, dass man ausgeschlafen an der Startlinie steht, für einen Lauf jenseits der 24 Stunden ist das hilfreich. Dennoch bin ich froh darüber, das ich noch ein Finish über die 215 Kilometer mitnehmen durfte. Im Falle eines Fehlschlags, ohne die Möglichkeit einer Revanche dazustehen, wäre schade gewesen.
Für mich steht fest: Hexenstieg – gerne wieder und auch gerne auf der neuen Strecke!

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